Die Weiterbildungsluege
Mitarbeiter gar keine direkte Möglichkeit hat, das Gelernte anzuwenden. Und damit ist die ganze
Maßnahme sinnlos. Im Fall des Lagermitarbeiters gab es zumindest bei ihm eine Motivation für das Seminar. Oft passiert der
gegenteilige Effekt, wenn ein Mitarbeiter ohne lange Vorrede zu einer Maßnahme geschickt wird. Es gibt eine distanzierte Haltung
gepaart mit Sprüchen wie: »Ich weiß gar nicht, was hier soll, mein Chef hat mich geschickt.« Oder: »Bis eben wusste ich noch
nicht mal, worum es geht.« Und in Bruchteilen von Sekunden weiß man, dass das Training den gleichen Sinn haben wird, wie Perlen
vor die Säue zu werfen. Auch die Personalentwicklerin eines Maschinenbauherstellers weiß aus Erfahrung: »Wenn einem Mitarbeiter
ein Training aufgedrückt wird, ohne dass vorher persönliche Zielsetzungen und Bedürfnisse besprochen werden, fehlt die Identifikation.
Dann findet kein Trainings- oder Wissenstransfer statt.«
Am Bedarf vorbei:
Weiterbildung als schönste Nebensache der Welt
Chefs wissen also zu wenig über ihre Mitarbeiter, als dass sie sagen könnten, welche Weiterbildungsmaßnahmen genau passen.
Angesichts der erwähnten Zeitnot gibt es nur zufällige Momentaufnahmen |103| . Dazu gesellen sich manchmal Beschwerden über den Mitarbeiter. Sei es von Kollegen, anderen Abteilungen oder Kunden. Aus
dem Bauch heraus wird eins und eins zusammengezählt: Der Mitarbeiter bringt sich bei Engpässen nicht flexibel ins Team ein,
also braucht er ein Teamfähigkeitstraining. Im anderen Fall ist er bei schwierigen Kunden am Telefon immer so gereizt – also
muss ein Telefontraining her. Auf den ersten Blick erscheinen diese Entscheidungen über den Fortbildungsbedarf plausibel.
Doch gestandene Personalentwickler und Trainer wissen, wie sich oberflächlich erkannter Bedarf um 180 Grad dreht, wenn man
intensiver die Ursachen und Zusammenhänge klärt. Wie kommt es zum Beispiel, dass eine Mitarbeiterin am Telefon immer so gereizt
ist? Ist es die Zahl der Telefonate? Liegt es daran, dass ihr das Verhalten nicht bewusst ist? Oder hat sie vielleicht die
Einstellung »Das Einzige, was stört, ist der Kunde«? Vielleicht fehlt es ihr nicht an Freundlichkeit, sondern sie braucht
ein Seminar zum Umgang mit persönlichem Stress. Stellen Sie sich vor, man schickt Sie in ein Telefontraining, bei dem Sie
einen Spiegel auf den Tisch gestellt bekommen. Sie sollen damit das »Lächeln am Telefon« lernen, um freundlich zu wirken.
Sie wissen aber, dass Sie Freundlichkeit beherrschen. Nur mit 80 Telefonaten am Tag kommen Sie nicht klar.
Spätestens, wenn man im Mitarbeitergespräch konkrete Ziele für eine Weiterbildung definiert und bespricht, woran man die Zielerreichung
genau erkennt, wandelt sich das Bild. Um aber derart in die Tiefe gehen zu können, braucht der Vorgesetzte selbst eine klare
Vorstellung, was im Training passiert. Werden gegenseitige Erwartungen nicht besprochen, ist hinterher die Enttäuschung groß.
Doch die Zeit fehlt. Statt Auftrags- und Bedarfsklärung ist das beliebte Ankreuzen angesagt. Üblicherweise läuft Anfang des
Jahres ein Seminarkatalog durch die Abteilungen. Die Vorgesetzten suchen sich das vermeintlich Passende heraus und melden
den Kollegen bei der Personalabteilung an. »Schnell wird irgendetwas für die Mitarbeiter angekreuzt. Nach einer Viertelstunde
ist |104| der Spuk vorbei«, erläuterte mir die Personalleiterin eines Telekommunikationsunternehmens die gängige Praxis.
Wie wenig die Chefs wirklich über ihre Mitarbeiter wissen, erfuhr die Personalentwicklerin eines Dienstleistungsunternehmens
am eigenen Leib. Noch heute schüttelt sie den Kopf über eine Begebenheit aus ihrer Zeit als Vorstandsassistentin. »Eines Tages
fragte mich meine Chefin, ob ich nicht auch zu einem Protokollworkshop gehen möchte, weil ich doch das Aufsichtsratprotokoll
als Tätigkeit geerbt hätte. ›Das ist doch ein guter Vorschlag‹, kommentierte ich ihre Ausführungen und erntete einen Aufschrei.
Sie erklärte mir, dass der Protokollworkshop von Auszubildenden und Bürokaufleuten angefordert worden war, die sich für ihre
Aufgabe als Teamassistenten fit machen wollten. Das Lernziel des Workshops war, Ergebnisprotokolle von Meetings oder andere
Gesprächsprotokolle zu verfassen. Ein Aufsichtsratprotokoll dagegen sei in seiner Komplexität und Bedeutung überhaupt nicht
mit einem 08/15-Protokoll vergleichbar. Das liege einfach an der Funktion des
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