Die Welfenkaiserin
wir schneller voran«, drängte Ruadbern. Harald Klak, der sich seit vielen Jahren dem Wohlleben in Friesland hingegeben hatte, nur noch Schaukämpfe ausfocht, an einer Abhandlung über Schiffsbau arbeitete und keinen Ehrgeiz mehr hatte, den dänischen Königsthron zurückzuerobern, gab sich einen Ruck.
»Ich werde meine Schwester befreien«, sagte er schließlich seufzend zu, tarnte sich als Handelsmann auf der Heimreise und schickte sein Gefolge mit seinem treusten Diener Steingrimm als falschem Harald an der Spitze nach Norden.
Ruadbern bereute es zutiefst, sich im Kloster Saint Medard selbst sehen gelassen zu haben. Lothars Leute hatten längst ausfindig gemacht, wie er dem Kaiserpaar beim ersten Aufstand als Bote gedient hatte. Jetzt verfolgten sie ihn und würden ihn und den vermeintlichen Handelsmann bei erster Gelegenheit niederstrecken. Wie Hasen schlugen die beiden Männer Haken, doch Lothars Häscher wurden sie erst am Comer See los.
»Niemand kann einen Wikinger zu Wasser schlagen«, rief Harald Klak übermütig und warf das Ruder des am Ufer gestohlenen Bootes herum. Ein Glück, dass er noch rechtzeitig erfasst hatte, wie mit dem ungewohnt beweglichen italischen Segel gegen den Wind zu fahren war! Das Wenden war zwar mühsam, da die Spiere auch die Seite des Mastes wechseln musste, aber er konnte viel höher am Wind fahren. Die des Segelns unkundigen Verfolger hatten zunächst ratlos am Ufer gestanden, aber die Bögen schnell in Anschlag gebracht, als der Sturmwind das Boot wieder gegen das Land zu drücken schien. Doch als dem Dänen die Wende gelungen war, schoss das kleine Boot rasch aus der Reichweite der Pfeile.
Jetzt, da der einstige dänische König das großartige Prinzip des südländischen Manövrierens vollständig begriffen hatte, kannte seine Begeisterung keine Grenzen. Wieso hatten seine Vorfahren Derartiges nie ersonnen, sondern sich mit ihren starren Rahsegeln begnügt! Wie viel Ruderkraft man mit einem schwenkbarem Segel doch einsparen konnte und welch eine Bereicherung für sein Werk über den Schiffsbau! Allein diese Erkenntnis machte das ganze Abenteuer lohnenswert und würde ihm den Ruhm der Nachwelt eintragen.
Benommen blieb Judith noch auf dem Boden liegen, nachdem der italische Graf mit gestammeltem Dank die Zelle schon längst verlassen hatte. Das einzige Gewand, das sie besaß, hing ihr in Fetzen vom Leib. Nur diese Tatsache schien mit der Wirklichkeit etwas zu tun zu haben. Der dicke Mann, der sich auf sie gestürzt und sie geschändet hatte, entstammte gewiss einer Sinnestäuschung. Sie musste einen bösen Traum gehabt haben, in dem sie sich selbst das Kleid zerrissen hatte. Jenes, was nicht vorgefallen sein konnte, war blitzartig geschehen, vergangen und nicht einmal eine Erinnerung mehr. Langsam erhob sie sich. Ihr war schwindlig, aber die Abwesenheit jeglichen Schmerzes beruhigte sie. Gewalt ohne Schmerz war undenkbar; also war ihr keine Gewalt angetan worden. Wie manche Priester, die sich für lange Zeit in die Einsamkeit zurückziehen und ohne Ansprache ihr Leben fristen, war eben auch sie im Begriff, wunderlich zu werden und sich in der ereignislosen Zelle ihres Kopfes Täuschungen hinzugeben. Das durfte so nicht bleiben und nicht wieder geschehen. Sie musste aufhören, mit dem Schreibmaterial, das ihr Ruadbern hatte zukommen lassen, fantastische Geschichten zu verfassen, die zwar einen Walahfrid Strabo hingerissen hätten, aber ihr selbst den Bezug zur Wirklichkeit stahlen; sie durfte nicht länger Briefe schreiben, die sie doch niemandem mitgeben konnte. Sie musste ihr Hirn mit einem schweren, aber lösbaren Problem beschäftigen, um nicht vollends verrückt zu werden. Nichts war geschehen; sie hatte sich das Kleid zerrissen und würde die Wächter um Nadel und Faden bitten, um es zu richten. Das war alles. Immer noch geschwächt von dem überstandenen Anfall, setzte sie sich an den kleinen wackligen Tisch in ihrer Zelle und malte auf ein Stück Pergament eine kreisrunde Insel. Wie lang musste der Strick am Hals der Ziege sein, damit sie vom Rand dieses Kreises aus genau die halbe Insel abgrasen konnte?
Arne fiel der Bierkrug aus der Hand, als er den Mann erkannte, der hinter Ruadbern den Gastraum der Abtei betrat. Er ging sofort in die Knie, aber ehe er dem Mann, den er als König kannte, huldigen konnte, bückte sich Ruadbern, drückte Arne mit Kopfschütteln und vielsagendem Blick einige der Scherben in die Hand und erklärte laut, er und sein Freund, der
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