Die Welfenkaiserin
einer leicht zugänglichen Gruft an der Via Appia, die er um die Mittagszeit aufgesucht hatte.
»Da liegen die Kanonheiligen Marcellinus und Petrus«, erzählte er. »Mit ein bisschen Geschick und Handwerkszeug sollten wir sie aus ihrer engen Behausung befreien und mit uns nehmen können.«
Einhard, der Mann der Schreibstube, blickte verzagt drein. »Ob das Gott gefällig ist?«
»Rom liegt voller Knochen«, merkte Judith an. »Von Männern, die der Papst selbst oder seine Vorgänger haben ermorden lassen. Gott wird uns danken, wenn wir ein paar lauteren Heiligen in unserem Heimatland eine ehrliche christliche Zuflucht gewähren.«
Die Wortwahl der Kaiserin war wirklich beklagenswert. Einhard setzte zu einer Belehrung an, doch Ruadbern kam ihm zuvor: »Eins gilt es allerdings zu bedenken: Auf solchen Diebstahl steht die Todesstrafe.«
»Wenn man erwischt wird«, murmelte Judith.
»Das schert mich wenig«, bäumte sich Einhard mit plötzlich erwachtem Tatendrang auf. Er brauchte dringend Reliquien. »Dann komme ich eben schneller zu meiner Emma.«
»Geht es hier denn um Diebstahl oder um Raub?«, fragte Judith nachdenklich.
»Ist das bei dieser Tat nicht zweitrangig?«, fragte Einhard unwirsch.
Ruadbern begriff, worauf sie hinauswollte. Mehr noch als Einhard hatte er sich mit den alltäglichen Gesetzen befasst. Und so erklärte er: Diebstahl gelte als das schlimmere Delikt; wem etwas heimlich gestohlen wird, der hat keine Gelegenheit, sein Eigentum zu verteidigen. Der Überfallene hingegen befinde sich im Vorteil, da er um sein Hab und Gut kämpfen könne.
»Raub«, entschied sich Einhard für das geringere Vergehen, denn die Heiligen könnten sich ja mittels Wunder gegen ihre Entführung wehren.
Judith, die sich gern mit Einhard stritt, bestand auf Diebstahl, da die Gruft dem Heiligen Vater gehöre, dem die Knochen gestohlen würden.
»Keins von beidem trifft zu«, behauptete Ruadbern. Den heiligen Knochen selbst, sagte er, könne es ja nur recht sein, dass sie aus einer vergessenen Gruft in eine neue Kirche überführt würden, in der sie endlich zu hohen Ehren gelangten. Weshalb sollten sie sich mit einem Wunder dagegen wehren? Diebstahl sei es auch nicht, da die Knochen der Heiligen kein Eigentum des Heiligen Vaters sein konnten.
»Die gesamte Christenheit hat Anspruch auf die Gebeine, also auch wir«, spann Einhard den Gedanken weiter.
»Und mit euren Gelehrtenhänden wollt ihr sie ausgraben?«, fragte Judith spöttisch. Weder Einhard noch Ruadbern waren körperliche Arbeit gewohnt und hatten darin auch wenig Geschick.
»Gott wird uns helfen«, meinte Einhard zuversichtlich.
»Und Arne,« fügte Judith hinzu. »Im Übrigen komme ich mit!«
Gemeinsam mit Ruadbern stand sie Wache an der zu dieser Nachtstunde stillen Via Appia, während Arne mithilfe einer Eisennadel recht mühelos das Gitter öffnete.
»Wir dürfen es nicht schließen; ich weiß nicht, ob ich es von der anderen Seite öffnen kann, wenn das Schloss wieder zuschnappt«, sagte er, bevor er mit Einhard in die Kirchengruft eindrang. Nach Ruadberns Beschreibung fanden sie die Grabstellen sehr schnell. Allerdings mussten sie den Edelknecht von seinem Wachposten holen, um die schweren Steinplatten auf den beiden Sarkophagen so zu bewegen, dass sie an die Knochen im Inneren gelangen konnten.
»Du kannst nicht hier draußen allein bleiben!«, sagte Ruadbern zu Judith.
»Irgendeiner muss doch Wache stehen und auf das Schloss achten!«, gab sie zurück, obwohl ihr ein wenig mulmig zumute war. Sie tröstete sich damit, dass bislang noch niemand vorbeigekommen war.
Aber kurz nachdem Ruadbern in der Gruft verschwunden war, hörte sie plötzlich Stimmen. Sie zog das Eisengitter vorsichtig näher an das Schloss heran und stellte sich davor, hoffend, in ihrem dunklen Umhang für die Herannahenden unsichtbar zu sein. Ihr seht mich nicht, ihr seht mich nicht, entsann sie sich ihres alten Zaubers. Aber sie war aus der Übung gekommen.
»Schau an, eine Hure vor der Gruft!«, vernahm sie zu ihrem Entsetzen. »Wenn sie nicht zu alt ist, kommen wir heute doch noch auf unsere Kosten!«
Zwei Männer näherten sich eiligen Schrittes.
Wilde Tiere, dachte Judith verzweifelt und erinnerte sich auf einmal an den Rat, wie solchen zu begegnen war, wenn sie sich im Forst auf einen Menschen stürzen wollten. Sie sammelte all ihren Mut und atmete tief durch. Dann stieß sie einen kurzen Schrei aus, sprang unvermittelt mit einem Satz auf die Männer zu, wirbelte
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