Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
Blätter um einen Ast, bis sie ihn als Ladestock benutzen konnte, und entdeckte im Gestrüpp unter der Kanone eine alte Kupferkelle, die noch von den einstigen Kanonieren stammte.
Als Munk zurückkam, atemlos vor Aufregung und rot bis zu den Ohren, füllte sie mit der Kelle Schießpulver in das Bodenstück, so viel, dass sein Gewicht etwa einem Drittel einer Kanonenkugel entsprach. Darauf stopfte sie Blätter an Stelle des fehlenden Kabelgarns, gefolgt von einer der alten Eisenkugeln, die sie auf einer rostigen Pyramide neben der Kanone fanden. Anschließend füllte Jolly das Zündloch mit Schießpulver und bat Munk, die Kanone gemeinsam mit ihr in die richtige Position zu bringen, und zwar so vorsichtig, dass das morsche Bodenstück nicht zerbrach. Sie zielte quer über das Wasser hinüber zur Landzunge auf der anderen Seite der Bucht. Auf dem höchsten Punkt wuchsen aus einem Farndickicht drei riesige Palmen. Jolly erklärte Munk, dass sie die mittlere treffen wolle.
Mit Zündzeug brannte sie einen Ast an, dann befahl sie Munk, zwei Schritte zurückzutreten. Mit der brennenden Astspitze entzündete sie das Pulver, dann hielten sich beide die Ohren zu.
Der Kanonenschuss krachte und schien für einen Herzschlag den blauen Himmel entzweizureißen. Einen Augenblick lang bestand die Welt nur aus Rauch und Holzsplittern. Der Hall des Geschützdonners rollte durch die Bucht, dann über die gesamte Insel. Die Aufhängung der Kanone war durch die Wucht der Zündung geborsten, das Bodenstück zerschmettert. Das Kanonenrohr selbst hing schräg in den Trümmerstücken, brach einen Moment später aus dem Gleichgewicht und walzte den Hang hinunter, zerquetschte mehrere Büsche und Sträucher, ehe ein Mahagonistamm es aufhielt; der Aufprall schüttelte einen Schwarm roter Insekten aus der Baumkrone.
»Puh«, machte Munk, aber sein Erschrecken wurde bereits von einer strahlenden Jubelmiene verdrängt.
»Das war Masse!«
Jolly hustete und wedelte mit der Hand den Rauch beiseite. Als sich die Schwaden verzogen, sahen sie, dass auf der anderen Seite der Bucht statt drei nur noch zwei Palmen standen; die linke war abgeknickt wie ein Strohhalm.
»Du hast es geschafft!«, rief Munk begeistert.
Jolly runzelte die Stirn. »Ich wollte eigentlich die in der Mitte treffen.«
»Ach was! Als ob das auf die Entfernung einen Unterschied macht!«
»Es ist ein Unterschied, ob man Großmast oder Fock eines Seglers erwischt.«
Aber Munk hörte gar nicht mehr zu, sondern tanzte vor Freude im Kreis. »Wahnsinn! Ein echter Kanonenschuss! Wenn ich das dem Geisterhändler erzähle.«
Jolly trat skeptisch zwischen die Trümmer der Kanone. »Das hätte schief gehen können. Wenn wir auf der falschen Seite gestanden hätten -«
»Haben wir aber nicht!« Munk trat neben sie und rieb sich den Nacken. »Hm, meinst du, wir könnten sie wieder zusammenbauen und das Ganze noch mal versuchen?«
»Ganz bestimmt nicht!«
Im selben Moment meldete sich hinter ihnen eine dritte Stimme zu Wort.
»Das war dumm«, sagte Munks Vater. »Ihr wisst gar nicht, wie schrecklich dumm das war.«
Sie saßen unter der palmblattgedeckten Veranda der Farm. Die Nacht näherte sich mit Riesenschritten, doch noch leuchteten am dunkelblauen Himmel keine Sterne. Allein der Mond war aufgegangen und versilberte mit seinem Licht die Spitzen der Dschungelbäume. Hinter dem gezahnten Kamm des Palisadenzauns, der das schlichte Holzhaus und die Scheune umgab, ertönten die Geräusche des Urwalds. Es war die Stunde, in der sich einige seiner Bewohner schlafen legten und andere zur nächtlichen Jagd erwachten. Ein paar aufgebrachte Affen lieferten sich eine wilde Hetzjagd durch die Baumwipfel und scheuchten einen ganzen Schwarm weißer Schmetterlinge auf, mit Flügeln so groß wie Jollys Hände. Ein würziger Geruch stieg aus dem Regenwald auf, die warme Luft war feucht, und alle paar Augenblicke ertönte ein Klatschen, wenn Jolly, Munk oder einer der beiden Erwachsenen nach einem Moskito schlugen.
»Vielleicht hätten wir dir schon früher alles erzählen sollen«, sagte Munks Vater. »Aber deine Mutter hat das nicht gewollt.«
»Mach’s dir nicht zu einfach«, sagte seine Frau.
»Wir waren beide derselben Meinung.«
Der Farmer nahm einen Schluck aus seinem Rumbecher, dann zuckte er die Achseln. »Begonnen hat es mit dem Untergang von Port Royal im Jahr 1692, vor vierzehn Jahren. Port Royal war einmal das übelste Piratennest auf Jamaika, ach was, in der ganzen Karibik. Aber
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