Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
und die Stühle, auf denen sie am Morgen noch gesessen hatten, waren wie unter einem gewaltigen Faustschlag zertrümmert worden.
Die Tür des Farmhauses war verschwunden. Und mit ihr ein Großteil der Vorderwand.
»Mum!«
Jolly hetzte durch die Ruine und sah, wie Munk neben dem leblosen Körper seiner Mutter auf die Knie fiel. Tränen flossen über sein Gesicht. Jolly stand hilflos neben ihm und überlegte, was sie tun, wie sie helfen konnte. Schließlich ließ sie sich auf der anderen Seite der Frau nieder, ergriff ihre Hand und suchte mit zitternden Fingern nach ihrem Pulsschlag.
»Sie lebt!«, stieß sie einen Augenblick später hervor. »Munk, deine Mutter lebt!«
Er blickte durch einen Tränenschleier zu ihr auf, sah dann zurück in das Gesicht seiner Mutter, streichelte ihre Wangen und tupfte mit seinem Ärmel über ihre Schrammen und Wunden.
»Ich muss Dad finden!« Widerwillig löste er sich von seiner Mutter und sprang auf. »Bleib du bei ihr.«
»Munk, es ist zu gefährlich da draußen!«
»Ich muss ihn suchen.«
»Dann lass mich mitkommen.«
Er schüttelte den Kopf und rannte los. Einen Augenblick später war er verschwunden. Sie hörte Holz krachen, als er über Baumstämme und zerschlagene Bretter sprang, dann war der einzige Laut das nicht enden wollende Geschrei der Vögel.
Niedergeschmettert und ratlos hockte sie da, hielt immer noch die Hand der bewusstlosen Frau und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, irgendwie einen Sinn in all dem zu erkennen. Sie fand keinen. Stattdessen stand sie auf, las einen der heil gebliebenen Krüge auf und holte eilig Wasser aus dem Fass in der Küche. Damit tupfte sie Munks Mutter das Gesicht ab, wusch, so gut es eben ging, verkrustetes Blut von ihren Zügen und dem Hals und öffnete dann das zerrissene Kleid.
Aus Gründen, die sie nicht verstand, hatte die entsetzliche Wunde am Rücken kaum geblutet - weder Jolly noch Munk hatten sie zuvor bemerkt. Und doch genügte jetzt ein Blick, um zu erkennen, dass niemand mit einer solchen Verletzung überleben konnte.
Munks Mutter würde sterben. Ganz gleich, was Jolly tat und wie sie versuchte, die Wunde zu verarzten - es war zwecklos.
Sie begann jetzt haltlos zu weinen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, bei der sterbenden Frau zu bleiben, und dem Drang, Munk zu folgen und ihm beizustehen. Sie hasste sich für ihre Hilflosigkeit. Ganz allmählich drang die Erkenntnis zu ihr durch, dass all das nicht geschehen wäre, wenn sie nicht ans Ufer dieser Insel gespült worden wäre; wenn sie bei Bannon und den anderen geblieben wäre; wenn das Verderben, das die Quappen heimsuchte, sie nicht hierher geführt hätte.
Das Kreischen ertönte zum dritten Mal, und diesmal war es so laut, dass die Ruine des Farmhauses vibrierte, einzelne Bretter aus den angeschlagenen Verankerungen brachen und zu Boden polterten.
»Munk!«
Sie legte den Kopf der Frau sanft am Boden ab, schenkte ihr einen letzten trauernden Blick, dann lief sie los.
Hinter dem Haus mündete eine weite Spur der Zerstörung in den Dschungel, ein Chaos aus geborstenen Palisaden und zersplitterten Bäumen. Jolly sprang und stolperte über das zerfetzte Unterholz und vergaß zum ersten Mal ihre Erschöpfung und den Schmerz, der jeden Teil ihres Körpers marterte.
Die Schneise führte durch den Regenwald zu einem der Tabakfelder, hundert Schritt hinter der Farm auf einer Lichtung.
Hier sah sie Munk wieder. Sah den reglosen Leib seines Vaters am Boden. Und wurde Zeugin eines Kampfes, wie sie ihn sich bislang nicht in ihren Albträumen hätte ausmalen können.
Die Geister der Plantage hingen wie bissige Hunde an etwas, das zu groß und zu schrecklich war, als dass Jolly es mit einem Blick hätte erfassen können. Munk stand mit ausgebreiteten Armen neben seinem toten Vater, als ströme aus seinem Inneren eine Kraft, die die Geister unter seinen Befehl zwang - und in eine ausweglose Schlacht mit dem Acherus.
Jolly war noch etwa zwanzig Schritt entfernt, als die Kreatur abermals einen lang gezogenen Schrei ausstieß, mit ihren Klauen durch die zerfasernden Geister fuhr und gleich wieder aufbrüllte, als die Dunstwesen sich erneut zusammenfügten und ihre Attacken fortsetzten. Dennoch zeichnete sich ab, dass der Angriff der Geister die monströse Gestalt lediglich aufhielt, nicht aber wirklich schwächte.
Der Acherus war womöglich einmal menschlich, gewiss aber menschenähnlich gewesen, auch wenn sich sein Leib aus den Abfällen der Ozeane
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