Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
er in ihr Ohr gewispert. »Gleich morgen. Wir gehen fort, und alles wird gut.«
Aber vielleicht war auch das nur Teil dieses Wachtraums, dieses Wirrwarrs aus Wahrem und Wundersamem und durch und durch Schrecklichem.
Denn nichts würde gut werden, das wusste sie genau. Nichts würde je wieder sein wie zuvor.
Besuch bei Nacht
Urvaters Stimme war trocken und spröde.
»Versuch es noch einmal«, sagte er.
»Du kannst es. Du musst es nur wollen.«
Jolly starrte auf die drei Muscheln, die vor ihr auf dem Boden lagen. Die geöffneten Muschelmäuler schienen ihr hämisch entgegenzugrinsen.
»Das hat doch keinen Zweck. Ich kann es nicht, und ich will es auch gar nicht können.«
»Das ist die Ausrede von jemandem, der Angst vor sich selbst hat.«
»Unsinn.« Aber sie sah den alten Mann nicht an, während sie das Wort aussprach. Denn tief in ihrem Inneren dämmerte ihr die Wahrheit. Urvater hatte Recht. Sie hatte tatsächlich Angst vor sich selbst, vor dem, was sie über sich erfahren mochte, wenn sie weiter in den unbekannten Regionen ihres Inneren bohrte. Es kam ihr vor, als würde sie ohne Karte und Kompass in ein fremdes Seegebiet vorstoßen, in der Gewissheit, dass unter den Wellen mörderische Riffs und Strömungen lauerten.
»Versuch es!«, forderte der Alte noch einmal.
Sie waren in Urvaters Büchersaal, einem Teil der Bibliothek, den er ganz für sich allein hatte. Es war eine Halle mit unregelmäßigen Wänden, wie in nahezu allen Räumen Aeleniums. Deshalb war es so gut wie unmöglich, Bücherregale daran aufzustellen. Also waren tausende und abertausende von Bänden auf dem Boden gestapelt, manche als Hügel wie Scheiterhaufen, andere in akribisch verschachtelten Türmen und Bücherburgen, kreis- oder hufeisenförmig, übereinander geschichtet wie Ziegelsteinmauern. Wer eines der unteren Bücher hervorziehen wollte, musste flink sein: Mit links ergriff man das Buch, mit rechts hielt man ein zweites, das blitzschnell in die entstandene Lücke geschoben werden musste, bevor das ganze Büchergebäude zusammenstürzen konnte.
Jolly hatte dem gebrechlichen Urvater so viel Geschick nicht zugetraut, doch er überraschte sie gleich beim ersten Mal, als er ihr den Trick vorführte. Seine knochigen Finger waren so behände wie die eines Taschendiebes. Weder Munk noch sie selbst vermochten die Bücher so flink auszutauschen wie er. »Auf diese Weise«, hatte er ihr erklärt, »gibt es niemals Unordnung. Alle Bücher liegen dort, wo sie liegen sollen, und es entstehen keine neuen Stapel, die man alle paar Wochen zurück an ihren Platz räumen muss. Für jedes Buch, das die Bibliothek gibt, fordert sie ein anderes. Ein gerechter Tausch.«
Urvater beharrte darauf, dass all diese Büchergebirge nach einer exakten Ordnung sortiert waren und er von jedem einzelnen Band wusste, wann er sich gerade an welchem Ort befand.
»Jolly.«
Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Du schaffst es. Vertrau mir.«
Sie blickte von ihren drei Muscheln zu ihm auf. Sein Gesicht war so braun und rissig wie ein Schiffskiel. Ihr war, als nickte er; dabei schaute er sie doch vollkommen reglos an. Es waren seine Augen, die zu ihr sprachen. Wie kein anderer Mensch, den sie kannte, verstand es Urvater, etwas nur durch Blicke mitzuteilen. Er hatte die vielsagendsten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Manchmal war sie nicht einmal sicher, ob er die Worte, die sie aus seinem Mund zu hören glaubte, wirklich ausgesprochen hatte.
Er stand neben ihr, den Rücken gebeugt, auf seinen Walrippengehstock gestützt und die Stirn zu einem ewigen Runzeln zerknittert.
»Du hast es doch vorhin geschafft«, sagte er bedächtig. »Jetzt arbeite daran. Arbeite an dir.«
Jolly seufzte, schloss die Augen und versuchte erneut, sich auf die drei Muscheln zu konzentrieren. Sie erschienen in der Finsternis hinter ihren Augenlidern wie die Feuerbälle, die man sieht, wenn man zu lange in die Sonne geblickt hat.
»Du musst sie spüren«, flüsterte Urvater.
Sie stellte sich vor, wie ihre Finger danach tasteten und in die offenen Muschelmünder griffen, die in ihren Gedanken viel größer waren als in Wirklichkeit. Sie schob ihre Hand hinein - nicht die echte, nur die gedachte -, fühlte die Magie unter ihren Fingerkuppen und zog sie daraus hervor wie ein langes Stück Garn beim Auftrennen einer Naht. Einen Faden nach dem anderen führte sie im Zentrum zwischen den Muscheln zusammen, bis sie spürte, dass die Verbindung hergestellt war.
»Sehr gut«,
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