Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
Ich selbst diene Aelenium nunmehr seit vierundzwanzig Jahren.« Einen Herzschlag lang flackerte sein Blick, dann aber fing er sich wieder. »Unter meiner Obhut hat der Mahlstrom seine Ketten gesprengt und ist zu neuer Macht gelangt. Die Verantwortung für diese Katastrophe trage ich, und ich werde -«
»Verzeiht, Graf«, unterbrach ihn der Geisterhändler, ohne sich von seinem Platz zu erheben, wie es wohl üblich gewesen wäre. »Aber nicht Ihr tragt die Schuld an diesem Unglück. Niemand hätte den Mahlstrom aufhalten können.«
Graf Aristoteles lächelte betrübt. »Es ist freundlich von Euch, dass Ihr mich in Schutz zu nehmen sucht, aber ich kann Euch nicht beipflichten. Es ist seit jeher Aeleniums Aufgabe, den Mahlstrom im Schorfenschrund gefangen zu halten, und aus welchen Gründen auch immer er an Stärke gewonnen hat - es ist unter meiner Ägide geschehen.«
Der Geisterhändler wollte abermals widersprechen, doch der Graf schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Es ist eine Tatsache, mein Freund«, sagte er. »Aber heute werden wir nicht weiter darüber sprechen. Es gibt Wichtigeres, das in dieser Runde entschieden werden muss.«
Jolly wunderte sich, wie sehr der Geisterhändler sich dem Grafen unterordnete. Dass er jetzt zustimmend nickte und schwieg, schien nicht zu seinem sonstigen Auftreten zu passen. Aber vielleicht war auch das ein Teil seiner Weisheit: den Augenblick erkennen, in dem es besser war, die Meinung eines anderen zu respektieren.
»Einige von uns wissen bereits, was uns bevorsteht und auf welche Weise wir dagegen ankämpfen müssen«, sagte der Graf. »Ich denke jedoch, dass wir es den beiden Quappen schuldig sind, die Dinge noch einmal beim Namen zu nennen.« Dabei richtete sich sein Blick auf Jolly und Munk, und er schwieg auffallend lange, während er sie betrachtete. Jolly kam es vor, als dränge sich sein Blick tief in ihre Augen und entdecke dahinter in weiter Ferne etwas ganz Erstaunliches.
Ein Piratenmädchen und ein Farmerjunge. Womöglich wurde ihm gerade bewusst, wie ausweglos die Lage war.
»Alles hat mit der Magie begonnen«, erklärte der Graf, und der Geisterhändler an seiner Seite nickte bedächtig. »Magie ist nur ein anderes Wort für die Kraft, die unsere Welt durchströmt und dabei durch Adern unter der Oberfläche fließt wie Blut durch den Körper eines Menschen. Diese Kraft ist es, die uns alle am Leben hält, auch wenn nur wenige ihr Geheimnis erfahren und kaum jemand sie versteht. Es ist diese Kraft, diese Magie, die der Welt zu Hilfe kommt, wenn sie wie jetzt bedroht wird. Genauso wie sie es schon einmal getan hat, vor vielen tausend Jahren.«
Jolly spürte, dass Urvater sie noch immer beobachtete. Auch Munk sah wieder in ihre Richtung. Sie erwiderte seinen Blick kurz und bemerkte erstaunt, wie er erst errötete, dann lächelte.
»Damals drohte der Mahlstrom zum ersten Mal, die Grenze zum Mare Tenebrosum niederzureißen und den Meistern den Weg in unsere Welt zu öffnen. Es waren Bewohner dieser Inseln, denen es damals gelang, die Gefahr abzuwenden und den Mahlstrom in einer gewaltigen Muschel am Meeresgrund einzusperren. Den Ort, an dem die Muschel liegt, nennen wir heute den Schorfenschrund. Lange Zeit war der Mahlstrom dort sicher gefangen, denn im Schorfenschrund bündeln sich die Adern der Magie. Sie hielten ihn im Zaum.
Trotzdem ist es damals einigen Kreaturen des Mare Tenebrosum gelungen, durch den Mahlstrom in unsere Welt zu gelangen, bevor er versiegelt wurde. Auf diese Weise kamen die Vorfahren der Klabauter herüber, heißt es, und es gab Menschen, die sich mit ihnen einließen. So bekamen die Klabauter ihre heutige Gestalt.«
Walker, dem sichtlich unwohl war in dieser Runde, erhob die Stimme. »Heißt das, die Klabauter sind zur Hälfte Menschen?«
Einige der Edlen warfen dem Captain rügende Blicke zu, aber Graf Aristoteles nickte geduldig. »In ihnen fließt auch Menschenblut, gewiss. Wie viel, das vermag niemand zu sagen. Sind sie eher von dieser Welt, oder liegen ihre Wurzeln im Mare Tenebrosum? Ich weiß es nicht, und ich bezweifle, dass ein anderer hier eine Antwort darauf weiß.« Sein Blick richtete sich auf den Geisterhändler, doch der schüttelte stumm den Kopf.
»Aber nicht die Klabauter sind es, die uns im Augenblick beschäftigen«, sagte der Graf nach einer kurzen Pause. »Ich habe sie nur erwähnt, um zu verdeutlichen, was uns erwarten mag, wenn der Mahlstrom sich vollständig öffnet.«
Er ergriff den Tonbecher,
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