Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
als die Geschichte in den Spelunken der Hafenstädte die Runde machte. Als Säufer, Tyrann und Betrüger hatte der Kapitän nur wenige Freunde unter den Führern der Karibikpiraten gehabt.
    Das Ganze wäre wohl rasch in Vergessenheit geraten, hätte nicht bald darauf die Besatzung eines anderen Schiffes, dessen Kurs es bis auf Sichtweite an der Insel vorübergeführt hatte, die Gerüchte von Neuem entfacht. Die Männer hatten von der Reling aus deutlich das riesige Rumfass am Strand erkennen können - und die beiden Beine, die daraus emporragten. Offenbar war Santiago seinem Suff zum Opfer gefallen, kopfüber in das Fass gestürzt und elendig im Rum ertrunken.
    Seitdem, so erzählte man sich, stand das Fass mit dem Leichnam wie ein Mahnmal am Ufer des Eilands. Selbst die abgebrühtesten Piraten überlief ein Schauder, wenn die Geschichte über Santiagos Ende in den Tavernen zum Besten gegeben wurde. Gewiss, man lachte über diesen Gierschlund, doch sorgte die Vorstellung des einsamen Rumfasses, aus dem die Stiefel des Piraten ragten, für so manche heimliche Gänsehaut. Zwar war Santiago nicht der Erste, der seiner eigenen Unersättlichkeit zum Opfer gefallen war, doch die Art und Weise war beispiellos. Bald schon war von einem Fluch die Rede gewesen, den der Kapitän im Rausch ausgestoßen und mit seinem letzten Schluck Rum begossen haben sollte.
    Ganz gleich aber, wie viele Geschichten auch die Runde machten - fest stand, dass Santiago zweifellos einer derjenigen gewesen war, die von der geheimen Versammlung der Antillen-Kapitäne mit dem Piratenkaiser Kenndrick gewusst hatten. Der Plan des Geisterhändlers sah daher folgendermaßen aus: Er wollte gemeinsam mit Soledad und Walker auf Seepferden zu dem Eiland hinüberreiten, Santiagos Geist heraufbeschwören und ihn dazu bewegen, den Treffpunkt von Kenndrick und den Piraten preiszugeben. Denn die Lebenden mochten sich wohl vor den Folgen eines Verrats fürchten und Stillschweigen bewahren, doch einem Toten konnten Kenndricks Drohungen gleichgültig sein. Der Geisterhändler war zuversichtlich, dass sein Vorhaben Erfolg haben würde.
    Von Santiagos Eiland aus wollten die drei ihre Reise zum Versammlungsort der Kapitäne fortsetzen, vermuteten d’Artois’ Späher doch, dass ihr Treffen mit Tyrone und Kenndrick kurz bevorstand. Eile war also geboten, nicht nur aus Sorge um den Angriff des Mahlstroms, sondern auch, weil die Versammlung vorüber sein mochte, ehe die Gefährten überhaupt dort eintrafen.
    Soledad erzählte Jolly all das, während sie gemeinsam die Gassen Aeleniums hinabstiegen, unter Schatten spendenden Planen hindurch, die die Bewohner von Haus zu Haus gespannt hatten. Sie brauchten fast eine halbe Stunde, um die Stallungen der Hippocampen unten am Wasser zu erreichen. Dort wurden sie von Walker und dem Geisterhändler bereits erwartet. Die Ställe der Seepferde befanden sich in einem weitläufigen Korallenkomplex, am Ufer einer Seesternzacke. Stallknechte eilten umher, manche schleppten zu zweit oder zu dritt große Körbe, randvoll mit winzigen Fischen, die frisch aus der See gezogen worden waren. Andere rollten hüfthohe Knäuel aus getrockneten Algen und Schlingpflanzen, die von plantagenartigen Feldern an den Wänden der Unterstadt und den Gliedern der Ankerkette geerntet worden waren. Beides wurde als Futter für die Seepferde benötigt, die bei aller Ausdauer doch für Mangelerscheinungen und, wie Jolly von d’Artois erfahren hatte, für Erkältungen in kühleren Gewässern anfällig waren. Dies war einer der Gründe, weshalb sich die Seepferde niemals über die Grenzen der Karibischen See hinausbewegten.
    Das Innere der Stallungen bestand aus einem Mittelsteg, mehrere hundert Fuß lang, an dessen Seiten bewässerte Becken im Boden eingelassen waren. Darin tummelten sich die Hippocampen, häufig unter Wasser, manchmal auch nebeneinander aufgereiht. Mit ihren großen, kreisrunden Augen beobachteten sie neugierig die Männer und Frauen, die damit beschäftigt waren, die Becken sauber zu halten, neue Wasserzuflüsse anzulegen oder ihre Schützlinge abzuschrubben und zu füttern. Es roch nach Algen, Salzwasser und der durchnässten Kleidung der Stallarbeiter. Lediglich der Fischgeruch, den man an diesem Ort ganz selbstverständlich erwartete, fehlte nahezu völlig, denn Hippocampen besitzen einen erdigen Geruch, ein wenig wie Uferschlick und feuchtes Gestein.
    Walker und der Geisterhändler erwarteten Jolly und die Prinzessin an einem der Becken.

Weitere Kostenlose Bücher