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Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Es war, als versuchte man, mit einer Hand voll Glühwürmchen der Dunkelheit Herr zu werden.
    Jolly ging hinter einem Stapel Rundhölzer in Deckung. Die Instandsetzungsarbeiten an der Carfax waren beendet, aber Reste des Materials und der Werkzeuge lagen noch immer in der Nähe der Anlegestelle herum. Die Schaluppe trieb am Ufer der Seesternzacke neben einem Dutzend Fischerbooten, deren niedrige Masten von der Carfax weit überragt wurden.
    Während sie aus ihrem Versteck angestrengt zur Anlegestelle hinübersah, schien es Jolly zum ersten Mal, als hätte das Schiff tatsächlich etwas Majestätisches. Und der Gedanke an ihren Plan versetzte ihrem Gewissen einen schmerzhaften Stich: Walker hatte die Schaluppe von seiner Mutter geerbt, einer gefürchteten Freibeuterin, deren Urne er in der Kapitänskajüte wie eine Reliquie aufbewahrte. Es war falsch, das Schiff zu stehlen. Aber, verflucht, Jolly war eine Piratin. Walker würde Verständnis haben. Mindestens eine Sekunde lang - bevor er ihr den Schädel einschlug.
    Jolly wusste, dass sich überall im Dunkeln Soldaten aufhielten. Am späten Nachmittag waren d’Artois’ Männer im Nebel auf einen Trupp Klabauter gestoßen, der die Stadt aus den Schwaden heraus beobachtet hatte. Seither wusste man, dass die Krieger des Mahlstroms unaufhaltsam näher rückten. Am Ufer der Stadt und auf den Aussichtstürmen waren die Wachen verdoppelt worden.
    Jollys Vorhaben war Wahnsinn, und sie wusste es.
    Unbemerkt aus Aelenium zu fliehen war unmöglich. Sie konnte nur hoffen, dass niemand sie an Bord der Carfax vermuten würde. Womöglich hatte sie bereits einen oder zwei Tage Vorsprung, ehe irgendjemand die richtigen Schlüsse zog. Auch dann waren die Seepferde immer noch schnell genug, um sie einzuholen. Aber vielleicht würde man einsehen, dass Jolly nicht für das taugte, was man von ihr verlangte. Schließlich war Munk ja auch noch da. Er war die mutigere Quappe und der mächtigere Muschelmagier. Wie geschaffen für den Kampf gegen den Mahlstrom.
    Sie spürte einen scharfen Schmerz bei diesem Gedanken und musste an die Worte des Geisterhändlers bei ihrem Abschied denken. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: Am Ende lief es darauf hinaus, dass sie Munk im Stich ließ. Er würde allein in die Tiefe gehen müssen, würde allein zum Schorfenschrund wandern.
    Hör auf damit! Mach es dir nicht noch schwerer, als es ist!
    Sie versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Als sie sich einigermaßen unter Kontrolle hatte, blickte sie sich ein letztes Mal um, dann huschte sie gebückt über das offene Hafengelände zur Anlegestelle hinüber. Der Landungssteg der Carfax vibrierte, als sie an Bord ging. Ihre Schritte auf dem Holz klangen hohl.
    Hinter der Reling ging sie abermals in Deckung und schaute zurück. Keine Menschenseele weit und breit. Falls Soldaten in der Nähe waren, hatten sie womöglich nur das Wasser im Auge, nicht die Anlegestellen. Wahrscheinlich rechnete keiner damit, dass jemand eines der Schiffe stehlen würde.
    Nur der Bergkegel mit seinen hunderten und aberhunderten von Spitzen, Türmen und Brücken schien sich über sie zu beugen, wenn sie lange genug an ihm emporschaute. Dann war es, als kippe er endlos langsam vornüber, und sie musste gegen den Drang ankämpfen, sich herumzuwerfen und fortzulaufen. Sogar im Dunkeln konnte sie sich von diesem Gefühl nicht ganz frei machen. Vielleicht war es auch nur die Sorge, dass von irgendwo dort oben jemand auf sie herabblickte.
    Sie bückte sich wieder und überquerte das Deck. Es roch nach frischen Sägespänen, nach Teer und Zimmermannsleim. Die Arbeiter Aeleniums und die Geister der Carfax hatten gute Arbeit geleistet, soweit sich das in der Dunkelheit feststellen ließ. Obwohl Jolly nirgends sonst in der Stadt auf Geister gestoßen war, schien der Umgang mit den Nebelwesen nichts Neues für die Menschen Aeleniums zu sein.
    Jolly hatte schon früher versucht, die gesichtslosen Wesen zu befehligen, doch sie war gescheitert. Nach ihrem Unterricht bei Urvater aber wusste sie, worauf sie achten musste, um die Wesen zu kontrollieren. Erst vor zwei Tagen hatte sie es im Wettstreit mit Munk bewiesen.
    Jetzt lief sie hinauf zur Brücke, löste die Sicherungstaue vom Steuer, legte die Hände um die Griffe und konzentrierte sich. Ihre Lippen formten stumme Worte, die nur sie selbst kannte und die ausschließlich für sie eine Bedeutung hatten; denn Magie, das wusste sie mittlerweile, war etwas ganz und gar

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