Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
hier unten Wache steht.«
»Du meinst…?«:
Soledad nickte. »Wir sind unterwegs, um den Männern auf unserem Schiff Bescheid zu geben. Wenn die erst hier sind, wird nicht mehr viel für euch übrig bleiben.«
Die Piraten wechselten einen Blick, dann eilten sie los. »Habt Dank!«, rief einer grinsend über die Schulter. »Ihr seid wahre Freunde!«
Soledad und ihre beiden Begleiter huschten gebückt ins Dickicht. Sie hörten noch, wie ein Pirat zum anderen sagte: »Ich glaube, ich kannte den einen Kerl. Sah aus wie Walker.«
»Der Walker?«, fragte der andere, doch was immer er darauf zur Antwort bekam, ging im Rascheln der Blätter unter, als die drei Gefährten sich eilig entfernten.
Sie entdeckten noch zwei weitere Wachtrupps, denen sie aber rechtzeitig ausweichen konnten. Bald danach erreichten sie den Gürtel aus Palmen, der die Insel umgab. Hier standen die Bäume in größeren Abständen, ohne schützendes Unterholz. Vor dem schneeweißen Sand zeichneten sich ihre Silhouetten als Scherenschnitte ab. Die kleine Gruppe beschleunigte ihre Schritte. Walker blieb etwas zurück, als er fluchend in ein Nest von Einsiedlerkrebsen trat und auf dem Weg zum Wasser damit beschäftigt war, die widerspenstigen Tiere von seinem Hosenbein zu zupfen.
Ein scharfer Wind wehte über das Meer. Die Brandung schäumte zu ihren Füßen, und sogar im Mondlicht war zu erkennen, dass sich auf der offenen See hohe Wellenberge türmten. Es schien fast, als hätte Tyrone die Vorboten eines Sturms mit nach Saint Celestine gebracht - und das gleich in mehrfacher Hinsicht.
Der Geisterhändler hob die Muschelpfeife an die Lippen. Dann warteten sie schweigend auf die Ankunft der Seepferde.
Soledad ließ der Gedanke keine Ruhe, dass sich die Antillen-Kapitäne allen Ernstes mit dem Kannibalenkönig verbünden wollten. Es war eine Sache, eine Festung der Spanier zu stürmen, auch wenn es dabei dutzende oder gar hunderte von Toten geben würde; etwas ganz anderes aber war es, fünftausend Menschenfresser auf die Bewohner von Caracas loszulassen.
In Gedanken sah sie Tyrones spitze Zähne vor sich und die schwarz gefärbten Enden seiner Zunge. Sie wusste, was die Menschen von Caracas erwartete, wenn diese Bestie dort Einzug hielt. Und obgleich Soledad selbst schon an Angriffen teilgenommen und mit eigenen Augen gesehen hatte, wie Piraten über die Frauen und Mädchen spanischer Siedlungen herfielen, beschwor die Vorstellung eines hungrigen Kannibalenheeres blankes Entsetzen in ihr herauf.
Plötzlich schien ihr alles aussichtslos. Ihre ganze Mission war ein Fehlschlag: An Land wüteten die Menschenfresser, auf See die Klabauter. Und irgendwo in der Ferne drehte sich der Mahlstrom.
Sie fragte sich, ob er nicht längst auch hier die Fäden zog, in Gestalt von Männern wie Tyrone und Kenndrick. Gab es eine Verbindung zwischen ihnen und dem Mare Tenebrosum? War der ganze Angriff auf Caracas nichts als eine Finte, um Piraten und Spanier zu beschäftigen, während der Mahlstrom seinen Machtbereich mit jedem Tag weiter ausdehnte?
Sie wollte ihre Gedanken mit den anderen teilen, als Walker plötzlich auf eines der erleuchteten Schiffe deutete.
»Das ist Tyrones Schiff - die Quadriga!«
Vor dem Sternenhimmel und dem aufgewühlten Horizont lag ein Viermaster, eine ehemalige spanische Fregatte mit hohem Bugaufbau. An der Reling und auf der Brücke brannten nur vereinzelte Lampen. Fast schien es, als sollte verhindert werden, dass neugierige Augen beobachten konnten, was an Deck vor sich ging.
Soledad überlief ein Schauder, als sie an die Männer dachte, die in Tyrones Diensten standen. Seine Begleiter oben auf dem Felsplateau waren keine Eingeborenen gewesen, und sie vermutete, dass sich auch der Rest seiner Mannschaft aus Männern der Alten Welt zusammensetzte. Doch wer erklärte sich freiwillig bereit, einem Ungeheuer wie Tyrone zu folgen? Womit köderte er seine Leute? Mit Reichtum? Kampf? Oder war es die Furcht vor ihm, die sie gefügig machte?
Gut hundert Schritt neben der Quadriga ankerte die Maske, Kenndricks Brigantine. Während die Quadriga vor allem für Seeschlachten taugte, war die kleine und schnittige Maske bestens für eine schnelle Reise geeignet.
»Das Beiboot!« Walker zeigte hinaus auf einen schmalen Umriss auf dem dunklen Wasser. »Sie bringen Kenndrick zurück an Bord. Er wird diese Niederlage nicht vergessen, ganz gleich, ob die übrigen Piraten der Karibik weiterhin ihm oder dir folgen.« Er war drauf und dran, einen
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