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Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier

Titel: Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vor eine unsichtbare Wand gestoßen.
    »Tut mir wirklich Leid«, sagte Buenaventure noch einmal.
    »Jolly«, rief der Mann. »Es ist schön, dich wiederzusehen.«
    Sie konnte nicht antworten. Ihre Kiefer fühlten sich an wie zugeschraubt, ihre Zunge war wie gelähmt.
    »Bannon?«
    Er schenkte ihr das strahlende Lächeln, das sie immer so an ihm gemocht hatte. Sein strohblondes Haar flatterte in der steifen Brise, und sein weißes Hemd bauschte sich im Wind auf wie ein Segel. Auf seiner Brust hing ein silbernes Amulett. Sein Vater, der Erster Kanonier an Bord eines Freibeuters im Sold der englischen Krone gewesen war, hatte es ihm geschenkt, bevor er im Hafen von Maracaibo aufgeknüpft worden war. Irgendwann hatte Bannon es an Jolly weitergeben wollen, das hatte er immer gesagt. Irgendwann gehört es dir.
    »Aber… wieso…?« Sie sprach so leise, dass die Worte nicht einmal bis zu Buenaventure drangen.
    Der Pitbullmann senkte den Blick. Zorn und Mitgefühl loderten zu gleichem Maß in seinen Augen.
    »Jolly, komm zu uns an Bord«, rief Bannon. »Wir haben dich vermisst. Schau dich um, es sind alle hier!«
    Ihr Blick wanderte über die Gesichter, die sie von der Quadriga aus musterten, einige lächelnd, andere ernst. Etwa jeden dritten der Männer erkannte sie. Da war Trevino, der Koch der Mageren Maddy, der die Tätowierung auf ihrem Rücken entworfen hatte; Christophorus, der Steuermann; Abarquez, der sie das erste Mal mit hinauf in den Ausguck genommen hatte; der Lange Tom, der in keine Hängematte der Maddy gepasst und sich aus erbeutetem Brokat eine größere genäht hatte; Redhead Doyle; der alte Sam Greaney; Guilfoyle und der schwarze Riese Mabutu; der stumme Deutsche Kaspar Rosenbecker; Lammond und Lenard, die besten Kanoniere der Maddy; und auch Zaragoza, der Stein und Bein schwor, kein Spanier zu sein, auch wenn es jeder besser wusste.
    Sie alle erkannte Jolly wieder, und noch einige mehr.
    Sie holte tief Luft. Sie war am Ziel angelangt. Das hatte sie sich am sehnlichsten gewünscht: Bannon und ihre Mannschaft wiederzufinden. Doch war es mitnichten das Wiedersehen, das sie sich ausgemalt hatte und für das sie so viel - wenn nicht alles - aufgegeben hatte.
    »Was… was tut ihr auf diesem Schiff?«, rief sie, und ihre Stimme klang nicht halb so fest, wie sie es sich wünschte. »Ich habe die Spinnen gesehen… und .«
    Wieder verstummte sie. Tränen schossen in ihre Augen. Sie hoffte, dass es auf die Entfernung niemand bemerkte.
    »Es geht uns gut, Jolly!«, erwiderte Bannon. »Komm an Bord der Quadriga, und ich erzähle dir alles.«
    Hilflos sah sie Buenaventure an, der kaum merklich den Kopf schüttelte. Warum, zum Teufel, sagte er nichts?
    »Was macht ihr auf der Quadriga?«, rief sie. Sie war zu aufgewühlt, um zuzuhören, ganz gleich, was er antworten würde. Aber sie brauchte Zeit. Zum Nachdenken, zum Abwägen, zum . Plötzlich wusste sie gar nichts mehr. Ihr kamen Zweifel, ob sie überhaupt eine Entscheidung treffen konnte, selbst wenn sie stundenlang darüber nachgrübeln würde.
    Aber ihr blieben keine Stunden. Nicht einmal Minuten.
    Hinter Bannon erschien ein Mann in Schwarz, der ihn fast um einen Kopf überragte. Sein Schädel war kahl rasiert bis auf einen langen schwarzen Pferdeschwanz, den er eitel über die rechte Schulter nach vorn gelegt hatte. Bemalungen zierten sein Gesicht, und irgendetwas war mit seinem Mund, das Jolly über die Distanz hinweg nicht richtig erkennen konnte. Mit seinen Zähnen.
    Bannon und Christophorus wichen beiseite, um dem Mann Platz an der Reling zu machen.
    »Wir sind alle ganz gerührt von diesem herzlichen Wiedersehen«, sagte er in einem Tonfall, der jedes seiner Worte Lügen strafte. »Aber wir verplempern hier unsere Zeit. Entweder du kommst freiwillig rüber, Mädchen, oder ich schicke jemanden, der dich holt.«
    Auf seinen Wink wurde eine Planke vom Hauptdeck der Quadriga zur Carfax herübergeschoben.
    »Und beeil dich!«, rief er Jolly zu. »Ich habe so viel von dir gehört, dass ich dich gerne selbst kennen lernen möchte.«
    »Das ist Tyrone«, flüsterte Buenaventure ihr zu. »Der Kannibalenkönig vom Orinoco.«
    Dies also war der Mann, der Munks Mutter vor vielen Jahren die Ringfinger abgeschnitten und die Ohrläppchen zerfetzt hatte, weil sie ihren Schmuck nicht schnell genug abgelegt hatte; derselbe Mann, von dem man sich erzählte, dass er den Befehl über tausende Kannibalen führte und dass er ihren Respekt durch Taten erlangt hatte, deren

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