Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber
kannst du dann Steine aufheben? Und Muscheln?«
Aina zuckte die Achseln. »Je weiter ich vom Mahlstrom weggegangen bin, desto weniger Substanz hatte ich. Vielleicht ist es ja umgekehrt genauso.«
Sie sah wohl, dass Jolly sich damit nicht zufrieden gab, und fügte hinzu: »Eine bessere Antwort weiß ich auch nicht. Ich hab die Regeln nicht gemacht.«
Hilfe suchend blickte Jolly zu Munk, doch der schien noch immer ganz im Bann der Muschel zu stehen.
»Wir haben uns schon zu lange hier aufgehalten«, sagte Aina und machte sich daran, den Abstieg die Geröllhalde hinunter fortzusetzen. »Lasst uns weitergehen.«
Jolly sah ihr hinterher, unsicher, was sie denken sollte. Dann aber folgte sie dem Mädchen.
»Munk, kommst du?«
Als sie sich nach ihm umsah, horchte er gerade in die Öffnung der Muschel. Ihre Blicke trafen sich, und er nickte. Aber auf einmal war sie nicht sicher, ob dieses Nicken ihr galt, oder vielmehr der Muschel, die ihm säuselnd etwas ins Ohr wisperte.
Der Angriff kam überraschend, ohne jede Vorwarnung.
Am Ende des Abhangs, jenseits eines Walls aus aufgeworfenen Felsnadeln und kantigen Blöcken, waren sie auf den Rand einer Ebene aus weißem Sand gestoßen. Aina hatte ihnen geraten, nicht über die weiten Sandflächen zu laufen, sondern die Füße nur auf die grauen Felsschollen zu setzen, die bei näherem Hinsehen an zahllosen Stellen durch die Staubdecke stießen.
»Treibsand«, hatte sie erklärt, die Augen niedergeschlagen und die Arme eng um den Oberkörper gelegt, so als fröstelte sie plötzlich. »Damals ist einer von uns fast hinuntergezogen worden.«
Hinunter, hallte es in Jollys Gedanken nach. Hinunter wohin? Noch tiefer ins Innere der Welt? Konnte es überhaupt einen tieferen Ort als diesen geben? Instinktiv wandte sie den Blick nach oben, dorthin, wo irgendwo die Meeresoberfläche sein musste, viele tausend Mannslängen über ihnen. Die Finsternis spannte sich über ihren Köpfen wie eine Kuppel aus schwarzem Samt. Mit ein wenig Mühe hätte Jolly sich einreden können, sie stünde unter einem Nachthimmel. Nur, dass es hier keine Sterne gab. Kein Gefühl von Unendlichkeit. Stattdessen Furcht erregende Schwere, die auf ihrem Gemüt, ihren Gedanken, ihrem Mut lastete wie ein Tonnengewicht.
Die Klabauter griffen an, als Munk gerade gefragt hatte: »Wie weit ist es noch bis zum Schorfenschrund?«, und Aina mit einem rätselhaften Lächeln erwidert: »Könnt ihr es denn nicht spüren? Wir sind schon mittendrin!«
Vor ihnen geriet der verschwommene Horizont ihres Sichtfeldes in Bewegung, als sich mehrere Klabauter in einer lang gezogenen Reihe aus der Schwärze lösten, die Körper so weiß wie der Sand der Ebene. Ihre augenlosen Gesichter waren in die Richtung der drei Quappen gewandt, ihre groben Hände mit den schwertgleichen Klauen baumelten fast bis zum Boden. Sogar ihre Gelenke waren spitzer und kantiger als die von Menschen, und Jolly fragte sich unwillkürlich, ob sie wohl ihre Knie und Ellbogen als Waffen einsetzten.
»Zurück!«, rief sie, als die Klabauter aus dem Dämmer traten.
Aina blieb wie angewurzelt stehen. Munks rechte Hand fummelte am Verschluss der Gürteltasche, in der sich nun auch die große Muschel befand.
»Lasst sie kommen«, sagte er leise.
»Munk!«, brüllte Jolly. »Verdammt, los jetzt!«
Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Die Muscheln aus der Tasche schienen wie von selbst in seine Hand zu gleiten, und ehe Jolly sich versah, kauerte er in der Hocke auf der Felsscholle und legte die Gehäuse vor sich aus. Ainas Geschenk platzierte er in der Mitte, wo es über alle übrigen Muscheln hinausragte wie der Turm eines wundersamen Märchenpalasts mit gezwirbeltem Dach.
»Ich muss herausfinden, wie mächtig sie ist«, murmelte er.
Die Klabauter rückten näher, in einer unregelmäßigen Reihe, die dem Verlauf der Felsplatten folgte. Jolly nahm sich nicht die Zeit, sie zu zählen, schätzte aber, dass es mindestens zehn waren. Vielleicht noch mehr.
»Munk, lass das! Es sind zu viele!«
Doch Munk hörte nicht auf sie. Aina stand dicht neben ihm. Beide blickten den Klabautern entgegen.
Ein fahles Leuchten fiel aus der Öffnung der großen Muschel. Der Kreis füllte sich mit Licht, als sich die größte und hellste Perle, die Jolly je gesehen hatte, aus dem Gehäuse löste und im Mittelpunkt des Zirkels emporschwebte. Es war anders als sonst: Früher hatte sich die Zauberkraft aller Muscheln in der Mitte konzentriert und war zu einer magischen
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