Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber
Reaktion, dann schwenkte ihr Blick auf Jolly. Das Maul öffnete sich einen Spaltbreit, und eine feine, gespaltene Zungenspitze tastete hervor, geradewegs auf Jolly zu.
»Keine Angst, sie tut dir nichts.« Soledads Stimme klang unter dem Helm so dumpf, dass nicht ganz klar war, wie überzeugt sie von ihren eigenen Worten war.
Dann aber geschah etwas Seltsames. Im einen Augenblick war Jolly drauf und dran, vor der Zunge zurückzuweichen - doch gleich danach, ganz plötzlich, fiel alle Angst von ihr ab. Es geschah im selben Moment, als die beiden Zungenspitzen ihre Wange berührten, samtweich darüber hinwegstrichen, unter ihrem Kinn entlang zum Hals und über die Lederkluft hinab zum Herzen wanderten. Dort verharrten sie für zwei, drei Atemzüge, um sich dann blitzschnell in das Schlangenmaul zurückzuziehen.
Jolly atmete nicht einmal auf. All ihre Furcht war wie fortgewischt. Sie verstand jetzt, was Soledad empfunden hatte, als sie diesem Wesen zum ersten Mal gegenübergestanden hatte. Es war ein Gefühl, das in einem so überwältigenden Gegensatz zum Furcht erregenden Anblick des Riesenreptils stand, dass ihr davon ganz schwindelig wurde.
»Soledad sagt, du hast die Ankerkette vor den Klabautern beschützt«, sagte Jolly zu der Schlange. Täuschte sie sich, oder blitzte Verstehen in den kalten Schlangenaugen auf? »Ohne dich wäre die Stadt von der Flutwelle vernichtet worden.« Sie überlegte kurz, doch dann fiel ihr nicht mehr ein, als sich im Wasser zu verbeugen. »Danke«, sagte sie.
Der Schlangenschädel wippte einige Male auf und ab, was eine Geste oder nur die Folge einer zufälligen Strömung sein mochte. Schließlich stieß die Zunge ein zweites Mal vor, berührte Jolly, dann auch Soledad und verschwand wieder im Maul. Der Schlangenleib schlug vor ihren Augen einen engen Bogen, rauschte endlos an ihnen vorüber und schoss zurück in die Tiefe.
Jolly und Soledad schwebten noch lange im Schacht und blickten schweigend ins Dunkel unter ihren Füßen. Schließlich sagte die Prinzessin: »Ich wollte, dass du sie siehst. Damit ich weiß, dass ich sie nicht geträumt habe.«
»Sie ist wunderschön«, sagte Jolly. »Und sehr alt, glaube ich.« Sie erinnerte sich an Jasconius, der jetzt irgendwo auf dem Meeresgrund ruhte, und sie fragte sich, wie viele solcher Wesen es noch in der Dunkelheit dort unten geben mochte. Kreaturen, deren Anblick jedem Menschen Furcht einflößte, und die doch in Wahrheit etwas vollkommen anderes waren als das, was alle in ihnen sahen. Ein Schauder rann über ihren Rücken, doch diesmal war es ein angenehmes Gefühl, geboren aus der Gewissheit, dass selbst ihre Begegnung mit Göttern und Wasserwebern nur ein Aufblitzen all jener Wunder war, die dort draußen auf sie warteten.
Sie kehrten um, durchquerten die Unterstadt auf ihrer markierten Route und schwammen bald durch einen Vorhang aus Sonnenstrahlen, der hinab ins Wasser reichte, millionenfach gebrochen und funkelnd.
»Glaubst du, der Wurm kann in seinem neuen Körper tauchen?«, fragte Soledad, kurz bevor sie die Wasseroberfläche durchbrachen. »Dann gibt es da unten jemanden, mit dem er sich verabreden sollte.«
Jolly ergriff lächelnd die Sprossen der Eisenleiter und kletterte hinauf auf die Seesternzacke.
Griffin erwartete sie an der Mole. Walker und Buenaventure waren bei ihm, und alle drei warteten gespannt auf das, was sie zu erzählen hatten. Später mussten sie es für Munk und den Hexhermetischen Holzwurm wiederholen und ein drittes Mal für den Geisterhändler, der bei ihren Worten gedankenverloren nickte und danach schweigend zurück in die Bibliothek wanderte, gestützt auf Urvaters Stab, so als hätten die Ereignisse ihm die Kraft vieler Jahre geraubt.
Die Papageien saßen auf seiner Schulter, einer mit roten, einer mit gelben Augen, und sie rührten sich noch immer nicht, als er allein hinaus auf Urvaters Balustrade trat, über die nächtliche See schaute und bedächtig durchatmete. Er blickte hinab auf die Korallenhänge, aus denen bereits neue Gebäude gehauen wurden, dann hinauf zum Gipfelplateau, über dem mehrere Rochen kreisten wie Schatten, die die Sterne schluckten.
Zuletzt sah er zum Ufer hinab, auf das Wasser zwischen den Rändern des Seesterns und dem Nebelring, und sein Blick drang vor in die Tiefen des Ozeans, wo er viele Wesen sah, die Gewaltigen und die ganz Kleinen, und er sah Jasconius im Dunkel träumen, und auch die magischen Adern sah er, neu verwoben, wo einstmals Risse entstanden
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