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Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Titel: Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sortierten einzelne Muscheln aus, legten andere dazu und änderten wieder und wieder das Muster. Endlich zufrieden, ließ sie von den Gehäusen ab, betrachtete die Anordnung und nickte langsam.
    Für einige Atemzüge schloss sie die Augen, und als sie die Lider wieder hob, war die magische Perle da, beinahe ohne ihr Zutun. Sie konnte sich nicht erinnern, wann es ihr jemals so leicht gefallen war, die Magie der Muscheln heraufzubeschwören. Es musste an der Kraft dieses Ortes liegen. Jolly vermochte sich nicht vorzustellen, wie dicht das Netz des magischen Garns im Schorfenschrund selbst sein musste, wie verwoben die Magie, wie gebündelt ihre Macht.
    Die Perle im Zentrum des Muschelmusters gloste und funkelte. Dann löste sie sich von ihrer Position und schwebte an der steilen Geröllhalde empor, erforschte Risse und Spalten und tauchte in Höhlungen und Löcher. Dabei folgten ihr die Leuchtfische in einer geschwungenen Reihe, wie der Funkenschweif einer Sternschnuppe. Jolly war bezaubert von so viel Schönheit inmitten dieser Einöde.
    Schließlich tauchte die Perle in einen dunklen Winkel, wo Schräge und Decke aneinander stießen. Gleißend verschwand sie in einer Öffnung, die von hier unten aus nicht zu erkennen war. Jollys Herz machte einen Sprung. Die Perle hatte einen Durchschlupf gefunden, eine Öffnung, die hinter die Trümmer der eingestürzten Felsdecke führte.
    Wenig später war die Perle wieder da, schoss zu Jolly herab und platzierte sich erneut im Mittelpunkt des Muschelmusters. Dort schwebte sie auf und ab und wartete ungeduldig, dass sie zurück in eine der Muscheln geführt wurde. Jolly tat ihr den Gefallen mit geschlossenen Augen und beschwörend ausgestreckten Händen. Als sie wieder hinsah, war die Perle fort und alle Muscheln geschlossen.
    Noch nie hatte sie sich so mächtig gefühlt. Zum ersten Mal verstand sie, was in Munk vorging, wenn er über den Zauber der Muscheln gebot. Es war eine belebende, wunderbare Euphorie, aber sie barg auch die Gefahr, sich selbst und alles um einen herum zu vergessen, völlig aufzugehen in diesem Gefühl von Entfesselung und Allmacht.
    Es gefiel ihr, schmeichelte ihr, aber es machte ihr auch Angst. Im Stillen schwor sie sich, dieser Lockung niemals nachzugeben. Hoffentlich blieb es ihr bis zuletzt freigestellt, diese Wahl für sich selbst zu treffen.
    Rasch sammelte sie die Muscheln ein, verstaute sie in der Gürteltasche und kletterte die Felshalde empor. Die Fische tanzten noch immer um die neu entdeckte Öffnung. Mit ihrem Silberlicht markierten sie die Stelle, anderenfalls hätte Jolly sie wohl wieder aus den Augen verloren.
    Das Loch war größer, als sie vermutet hatte, und es fiel ihr nicht schwer hindurchzuschlüpfen. Auf der anderen Seite erwartete sie eine weitere Höhle, der Rest des verschütteten Felstunnels.
    Sie kletterte zum Boden hinunter und machte sich auf den Weg, tiefer hinab in die stillen Kavernen des Klabauternests. Die Fische folgten ihr und gaben dabei ein kaum hörbares Knistern und Rascheln von sich, vielleicht der Laut ihrer reibenden Schuppen, vielleicht auch ein Wirbel aus Stimmen, ein frohes, erleichtertes Kichern dieser winzigen Wesen.
    Irgendwann wusste sie nicht mehr, wie viele Abzweigungen sie genommen, um wie viele Wegkehren sie gebogen war. Der Boden führte die ganze Zeit über abwärts, mal ganz seicht, dann wieder steil, und ihr war, als würde das Wasser um sie herum allmählich wärmer. Was, wenn sie geradewegs in eine Siedlung der Klabauter stolperte? In eine unterseeische Höhlenstadt der Tiefen Stämme? Allerdings hatte sie auf ihrem Weg bereits zahlreiche kleine und größere Kavernen entdeckt. Hätten die Klabauter in diesem Felsen siedeln wollen, hätten sie es gewiss bereits weiter oben getan.
    Etwas anderes erwartete sie dort unten. Und in Anbetracht dessen, was Aina gesagt hatte, gab es nur wenig Zweifel, was das sein würde. Oder wer.
    Trotzdem gab es nur diese eine Richtung. Bislang hatte sie keinen Weg gefunden, der nach oben führte. Gewiss, es hatte Gabelungen gegeben, doch die anderen Tunnel hatten noch steiler abwärts geführt.
    Ob Munk und Aina das Herz des Schorfenschrundes bereits erreicht hatten? Denk nicht daran, hämmerte sie sich ein. Mach dir lieber Gedanken, wie du hier wieder rauskommst.
    Der Gang weitete sich. Seine Wände endeten abrupt und entließen Jolly in eine gewaltige Grotte, so groß, dass sich ihr Ende jenseits der Quappensicht befand.
    Auf den ersten Blick war die Höhle leer.

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