Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber
Niemand würde je davon erfahren.
Seltsamerweise musste sie an den Himmel denken, als sie glasig zur Felsdecke emporschaute - an einen hellen, blauen, offenen Himmel, der jetzt dreißigtausend Fuß über ihr lag, so unerreichbar wie der Mond und die Sterne. Sie dachte an den Wind der Karibik, der ungezählte Male in ihr Gesicht und die knatternden Segel geblasen hatte. Sie dachte an die Freiheit auf dem unendlichen Ozean. Und sie erinnerte sich an ihr altes Leben auf der Mageren Maddy, an ihren Ziehvater Bannon, wie er früher gewesen war, vor seinem Verrat, mit dem das alles hier begonnen hatte.
Und dann durchzuckte sie die Erinnerung an ein einzelnes Gesicht wie ein scharfer Schmerz. Griffin. Fast war es, als streckte sich etwas von ihm nach ihr aus, eine Hand, die ihr zuwinkte, ein letztes Mal, ein Abschied für immer.
Jolly sank auf die Knie und brach in Tränen aus.
Es war zu viel, endgültig zu viel. Sie hatte Schmerzen ertragen, das Leid der Trennung, das Alleinsein und Munks Feindseligkeit. All das hatte sie hingenommen. Aber jetzt war der Moment gekommen, in dem ihr Widerstand nachgab und alles, das sie so lange unterdrückt hatte, über sie hereinbrach.
Lange kauerte sie am Boden, die Augen geschlossen, zusammengerollt wie ein Kind, das nicht mehr ein noch aus weiß, und sie weinte, bis sie nicht mehr spürte, ob überhaupt noch Tränen kamen, denn sie wurden gleich eins mit dem Meer und hinterließen keine Spuren.
Etwas stupste an ihre Nasenspitze.
Als sie die Augen aufschlug, wurde sie von der Leuchtkraft des kleinen Fischs geblendet. Der Rest des Schwarms tanzte vor ihrem Gesicht, während die winzigen dunklen Augenpaare sie ausdruckslos ansahen.
»Lasst mich in Ruhe«, flüsterte sie und schlug kraftlos mit der Hand nach ihnen. Die Fische stoben auseinander, formierten sich aber gleich darauf neu. Wieder stieß einer gegen ihre Nase, zwei andere strichen an ihren Wangen entlang. Diesmal fühlte es sich fast an wie Hände, die sanft ihr Gesicht streichelten.
In ihrer Erinnerung setzte sich aus schwirrendem Hell und Dunkel ein Bild zusammen: Drei alte Frauen, an ihrem langen Haar miteinander verbunden, saßen an Spinnrädern auf dem Meeresgrund und spannen das Wasser zu einem durchscheinenden, funkelnden Garn. Die Fäden, manche einzeln, andere gebündelt, erstreckten sich von dem seltsamen Ort aus in die Ferne. Nach einem nur scheinbar willkürlichen Prinzip verwoben, bildeten sie ein Geflecht aus glitzernden Strängen, das in alle Richtungen strebte: Die Weberinnen saßen im Zentrum eines weltumspannenden Aderwerks.
Dann löste sich das Bild von dem, was Jolly damals mit eigenen Augen gesehen hatte, und nahm sie mit auf eine Reise. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit sauste ihr Blick an einem dicken Bündel der magischen Stränge entlang, über unterseeische Berge, durch Schluchten, Staubwüsten am Meeresgrund und Wälder bizarrer Gewächse. Schließlich ging es über zerklüftete Spalten und Risse hinweg, entlang mächtiger Brocken, die versunkene Ruinen sein mochten, wieder durch graue Einöde bis… ja, bis zu diesem Felskegel, dem Nest der Klabauter. Hier kreuzte das magische Garn andere Stränge, eine Unzahl davon, und Jolly begriff: Der Berg erhob sich über einem Kreuzweg der Magie, einem Ort, an dem Adern aus vielerlei Richtungen aufeinander trafen und die Umgebung mit ihrer Macht durchtränkten.
Die Leuchtfische stoben auseinander, wirbelten um Jollys Kopf und setzten sich zu einer schillernden Traube zusammen, die auf unsichtbaren Strömungen auf und nieder hüpfte.
Die Bilder verblassten mit dem Ende ihrer Reise im Klabauternest, und Jollys Hand fuhr unwillkürlich an ihre Gürteltasche. Ihren Rucksack und all ihre Verpflegung hatte sie verloren, aber die Tasche an ihrer Hüfte war noch da. Und darin, ihre Muscheln.
Sie rappelte sich hoch und blinzelte ein paar Mal, als könne sie nur so sicher sein, dass die Umgebung wirklich war. Die Fische huschten quirlig umeinander, von einer schwer zu fassenden Aufregung gepackt.
»Ihr könnt mir nicht helfen, nehme ich an«, sagte Jolly, »deshalb muss ich das selbst erledigen, oder?«
Sie schniefte ein letztes Mal, schluckte stockend und fühlte, wie neue Kraft sie durchströmte.
Sie ging in die Hocke, legte die Muscheln vor sich im Kreis aus und wartete darauf, dass sie zu ihr sprachen. Es dauerte nicht lange, da spürte sie, wie ihre Hände Bewegungen vollzogen, die nur zum Teil von ihr selbst gesteuert wurden. Ihre Finger
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