Die Welt auf dem Kopf
aussieht.
»Ach, das obere Stockwerk! Ach, das obere Stockwerk!«, sagt sie voller Begeisterung. Allein schon wenn sie spürt, wie die Fensterscheiben vibrieren, wenn die Schiffshörner ertönen, oder sieht, wie das Licht auf der großen Glastür und den Spiegeln spielt, ist sie wie verzaubert.
Ich kann sie im Übrigen gut verstehen, auch ich fand die Wohnung der Johnsons schon immer unwiderstehlich. Es ist die größte im ganzen Haus und bei Weitem die prächtigste mit ihren fünf Meter hohen Decken, den purpurroten Seidentapeten, vierteiligen Fenstern mit überbauten strahlenförmigen Rundbögen, den brokatbezogenen Sofas und den zahlreichen Spiegeln, die die Lichter aus dem Hafen vielfältig reflektieren.
Aber Annas Lieblingsraum ist mittlerweile die Küche. »Diese Küche! Ach, die Küche im oberen Stock!« An den Wänden hängen Kochlöffel und Vorlegegabeln und Hackbretter und Pfannen in allen Größen. Ein moderner Herd mit eingebauten Kochfeldern und einem Backofen in Augenhöhe und alle erdenklichen Errungenschaften der Kochkunst. Denn Mrs. Johnson hat seit jeher, wie mir schon als Kind die Hausangestellten erzählten, aus allen Ecken der Welt die raffiniertesten Rezepte mitgebracht, vor allem aus Paris.
Meine Tante hatte übrigens unrecht mit ihrer Behauptung, ich würde mit den Hausangestellten der Johnsons nurSardisch reden. Klar sprachen wir Sardisch, aber auch Französisch oder Englisch, zumindest, wenn es ums Essen ging. Die Signora von oben schickte nämlich die neuen Rezepte nach Hause, sodass die Frauen sie ausprobieren konnten, bevor sie eintraf und mit ihr die vielen Gäste, die sie immer einlud. Für ihren Mann – mischineddu , »den Armen« – kochte sie hingegen nie etwas Besonderes. Unter dem Vorwand, dass er Vegetarier sei, wurde er im Sommer mit zwei, drei aufgeschnittenen Tomaten und im Winter mit zwei Pellkartoffeln oder aufgewärmter Gemüsesuppe abgespeist.
Oft sagten die Frauen auf Sardisch zu mir: »Willst du ein bisschen was davon, Süße? Es schmeckt köstlich, das Rezept stammt aus Paris! Willst du?«
Und sie konnten nicht nur hervorragend kochen, sondern kannten auch sämtliche Ingredienzien auf Französisch. Noch heute erinnere ich mich Wort für Wort an die Zutaten eines Gerichts – ich meine fast, es war eines der berühmten Rezepte aus dem Maxim’s –, weil mich der geheimnisvolle Klang der fremdländischen Wörter so faszinierte: »Homard bleu rôti, morilles et févettes étuvées, pomme de terre confite et cerfeuil concassé.«
Sieben
A nnas Mann verließ sie wegen einer anderen, aber sie hatte ihn geheiratet, obwohl sie ihn nicht liebte, wie sie mir im Vertrauen erzählte. Auch körperlich fand sie ihn nicht attraktiv, was vielleicht an seinen roten Haaren lag, und sie wollte keinen mit einem »Kopf rot wie Tomatensauce« – unu conc’ ’e bagna . Im Grunde hatte sie ihn nur genommen, weil sie endlich in einer normalen Wohnung wohnen und ein normales Leben führen wollte. Er war zwar nur Hilfsarbeiter, doch sie war froh, den Spitznamen loszuwerden, der den Bewohnern der Marina anhaftete: Man nannte sie culus sfustus , »Nassärsche«, weil der Hafen damals noch vorwiegend von Fischern bewohnt wurde. Vor allem wollte sie jedoch dem Viertel entkommen, wo sie geboren war und zusammen mit der Mutter, einer Frau von zweifelhaftem Ruf, in einem Elendsquartier hauste. Wenn sie heute daran vorbeigeht– das Gebäude existiert noch immer –, wendet sie sich voller Abscheu ab und weigert sich, es mir zu zeigen. Mit ihrem Mann zog sie an den Stadtrand, doch bald stellte sie fest, dass diese lang gezogenen Mietskasernen weit entfernt von dem waren, wovon sie immer geträumt hatte, ebenso wie ihre Ehe. Vor ihrer Heirat hatte sie sich wenigstens noch der Illusion hingeben können, dass alles möglich sei, jetzt hingegen hatte sie das Gefühl, dass diese langen Reihen grauer Häuser, aus deren Fenstern freudlos die Wäsche zum Trocknen hing, ob im Winter, wenn es klirrend kalt war, oder im Sommer in der flirrenden Hitze, für immer und ewig wären. Schließlich kam er ihr zur Hilfe, indem er sich in eine andere verliebte. Nachdem ihre Ehe zerbrochen war, fand sie sich allein mit ihrer kleinen Tochter wieder und musste von früh bis spät schuften, während sie davon träumte, ihr Glück zu machen und eines Tages in die Marina zurückzukehren, reich oder berühmt, auch wenn sie nicht genau wusste, wofür, ob fürs Singen, Tanzen, Kochen oder Nähen, alles Dinge, die sie
Weitere Kostenlose Bücher