Die Welt auf dem Kopf
gut konnte.
In dieser Beziehung war sie genau wie ich: Auch ich habe immer davon geträumt, meinem Dorf den Rücken zu kehren, wo ich nach dem Unglück meiner Familie zur Außenseiterin geworden war, und eines Tages mit Glanz und Gloria zurückzukehren und mich bewundern zu lassen. Und genau wie mir war es ihr gleich gewesen, woher dieser Ruhm kommen würde, wobei ich gar nichts kann im Unterschied zu meiner Freundin, die alles kann.
Anna heißt so, weil sie am Tag der heiligen Anna geboren wurde und ihre Mutter so kurz nach dem Krieg keine Lust gehabt hatte, sich einen anderen Namen auszudenken, zumal sie eine Gewerbsmäßige war und das Kind ungewollt bekommen hatte. Die beiden wohnten also in jenem Haus in der Marina, das diesen Namen nicht verdiente, einem dunklen, feuchten, stinkenden Loch, wo jetzt Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten Zuflucht gesucht haben.
Glücklicherweise verdingte sich Anna bereits als junges Mädchen als Haushaltshilfe und kaufte ihrer Mutter von ihrem ersten Gehalt einen Gasherd und richtige Matratzen. Von Anfang an wusste sie, wer ihr Vater war, ein Soldat, der mit ihrer Mutter ungeschützten Sex gehabt hatte. Immerhin kümmerte er sich um sie, so gut er konnte, was aus der Ferne nicht so einfach war. Zu ihrer Geburt schenkte er ihr ein Halskettchen, auf dem »Anna« eingraviert war, natürlich ohne ihren Nachnamen, und zur Erstkommunion Ohrringe. Und zu Annas Hochzeit reiste er, mittlerweile ein alter Mann, eigens nach Sardinien, um ein paar Worte mit dem angehenden Schwiegersohn zu reden, dem er drohte: »Wenn du sie zum Narren hältst, bekommst du es mit mir zu tun!«
Annas Mann war bei ihrer Hochzeit jedoch so verliebt in Anna, dass es keiner Drohungen bedurfte, jedenfalls dachte er das damals, denn die wahre Leidenschaft sollte er erst kennenlernen, als er einer anderen Frau begegnete. Bei der Trennung versprach er ihr, die Miete für diese triste Wohnungin diesem tristen Viertel voller lang gezogener Mietskasernen zu bezahlen. Anfangs kam er jeden Sonntag zu Besuch und brachte Natascha Geschenke. Diese, schon als kleines Mädchen sehr ernst, fixierte ihn mit ihrem harten, kalten Blick und machte keine Anstalten, die Geschenke auszupacken. Und so wurden die Besuche des Vaters immer seltener, bis er Anna schließlich bat, in die Scheidung einzuwilligen, damit er erneut heiraten konnte, zumal aus seiner neuen Liebe ein weiteres Mädchen hervorgegangen war. Hier in der Marina, wohin Anna schließlich wieder zog, brachten die Menschen Anna – mischinedda , »die Arme!« – viel Mitgefühl entgegen. Sie sagten, der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen, und ein Unglück kommt selten allein. Hätte sie nicht wenigstens ein kleines bisschen Glück verdient, wo sie eine solch elende Kindheit und Jugend gehabt hatte? Im Grunde, sagten sie, wäre es besser für sie gewesen, wenn der liebe Gott sie wieder zu sich genommen hätte. Um die kleine Natascha hätten sie sich schon gekümmert, die Frauen aus der Nachbarschaft, es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie sich wie Elefantenmütter des Babys einer anderen Frau angenommen und es wie ihr eigenes aufgezogen hätten. Aber Anna dachte nicht daran zu sterben, und auch wenn sie noch oft wegen ihrer zerbrochenen Ehe weinte, ahnte sie, dass ihr Mann sie ebenfalls nie wirklich geliebt hatte. Im Übrigen hatte sie, als er sie verließ, vor allem deswegen gelitten, weil sich das für eine solche Situation gehörte, doch später verzieh sie ihmund war ihm im Grunde ihres Herzens sogar dankbar. Und so begann sie, endlich frei von Gewissensbissen, wieder von Liebe, Reichtum und Ruhm zu träumen. Davon abgesehen hatte sie gar keine Zeit, der Vergangenheit nachzutrauern oder Groll zu hegen, denn sie brauchte ihre ganze Energie, um ihr altes elendes Leben in einem weiteren dunklen Loch in der Marina aufzunehmen.
Alle sagten ihr, dass sie eine wunderschöne Stimme habe, die schönste im Kirchenchor von Sant’ Eulalia. Also nahm sie ein wenig Gesangsunterricht und träumte davon, eine berühmte Sopranistin zu werden. Aber die Gesangsstunden waren zu teuer, und so begnügte sie sich wohl oder übel damit, in der Kirche »Adeeste fideeles … veniite adoreemus …!« zu singen. Oder bei sich zu Hause Beatlessongs. Beim Hausputz höre ich sie manchmal aus voller Brust singen: »Ollju nied is laaf lalalalala. Ollju nied is laaf laaf. Laaf is ollju nied!« Oder wie sie die sinnliche Stimme von Marlene Dietrich nachahmt: »Where have all the
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