Die Welt auf dem Kopf
lässt.
Seit ich all diese Dinge von ihr gelernt habe, muss ich ihr recht geben. Ich genieße es, mich morgens mit meinem Milchkaffee an den Tisch zu setzen, ohne mich zuvor mit dem schmutzigen Geschirr in der Spüle abplagen zu müssen, oder mit irgendwelchen klebrigen Rändern, wenn ich abends von der Uni nach Hause komme.
Und mittlerweile sehe auch ich den Schmutz, wo ich ihn zuvor nicht gesehen habe, auf Lichtschaltern, Telefonhörern, Türgriffen, in den Falten der Türdichtung von Kühlschränken, auf dem Gehäuse von Gegensprechanlagen oder den Drehknöpfen des Gasherds. Und selbst wenn mich der jeweilige Schmutz gar nichts angeht, juckt es mich in den Fingern, einen Lappen zu holen und ihn wegzuwischen.
Anna hat es am Herzen, sie leidet an koronarer Herzkrankheit. Sie müsste sich schonen und sich in Behandlung begeben, aber stattdessen legt sie sich eine Tablette unter die Zunge und putzt weiter fremde Wohnungen und Häuser. Und immer handelt es sich um Putzarbeiten im großen Stil. Nicht so wie bei Mr. Johnson, wo sie jeden Tag hingeht und was sie heute nicht schafft, eben morgen erledigt.
Sie ist als Erste im ganzen Haus auf den Beinen; bereits kurz nach Tagesanbruch höre ich das Geklapper ihrer Absätze, wenn sie in Richtung Tor geht, und nie würde manbei ihrem energischen Schritt vermuten, dass sie krank ist, und zwar seit Langem. Wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kommt und die Treppe hinaufsteigt, höre ich ihre Schritte von Neuem, aber sie klingen jetzt viel schwerer.
Ich kann nicht beurteilen, ob Anna schön ist. Sie hat große, leuchtende schwarze Augen, ein Gewirr ebenso schwarzer, krauser Haare, in die sich trotz ihres Alters noch keine grauen Fäden gemischt haben, und große, feste Brüste, genau solche, nach denen die Männer meines Erachtens verrückt sind. Und trotz ihrer geschwollenen Beine ist sie in meinen Augen anmutig und hat trotz ihrer schweren Schritte etwas Beschwingtes, weil sie lebenslustig ist und immer ein Lächeln auf den Lippen hat, ein sanftes, vertrauensvolles Lächeln. Nie wird sie wütend, und wenn ihr jemand unrecht tut, verzeiht sie rasch und hat es bald schon wieder vergessen. Wenn Natascha anfängt, die Ungerechtigkeiten aufzuzählen, die sie und ihre Mutter und ihre Großmutter erlitten haben, hört ihr Anna zunächst geduldig zu und nickt hin und wieder, aber schon nach kurzer Zeit langweilt sie sich und muss ein Gähnen unterdrücken, um ihre Tochter nicht zu verletzen, bis ihr schließlich der Kopf auf die Brust sinkt und sie im Sitzen einschläft.
Sie ist so stolz auf ihr gutes Zimmer, dass sie dabei zu übersehen scheint, wie armselig ihre Wohnung ist und wie armselig ihr Leben, weil sie immer fremden Leuten dienen muss. Dafür sieht sie andere Dinge. Manchmal ruft sie mich in den oberen Stock hinauf, weil sie mich teilhaben lassenwill an dem wunderschönen Bild, das ein ungemachtes Bett vor dem meerblauen Fenster abgibt. Wenn es Frühling wird, überkommt sie eine unbändige Freude, ebenso wie bei der Ankunft von Kreuzfahrtschiffen, die, wenn sie morgens in den Hafen einlaufen, noch hell erleuchtet sind. »Diese vielen Lichter! Ach, diese Lichter! Ach, ist es nicht herrlich, wenn man zu Hause ist und trotzdem verreist!« Völlig verzaubert steht sie da und kann ihr Glück kaum fassen.
Gewiss, sie sollte vielleicht ein bisschen mehr auf ihre Kleidung achten. Im Winter könnte man sie glatt für eine Asylbewerberin halten, in ihrem Mantel mit den abgestoßenen und ausgeblichenen Rändern, mit dem Wollkopftuch, das sie wegen ihrer Trigeminusneuralgie trägt, und ihren Schuhen, die immer ausgetreten sind, weil ihre Füße im Laufe des Tages anschwellen und sich dadurch ihre Schuhgröße verändert; aber natürlich kann sie sich nicht von jeder Sorte Schuhe mehrere Paare in unterschiedlichen Größen leisten. Trotz allem würde sie gern elegant sein, und so versucht sie, sich mit alten Vorhängen und Tischtüchern zu behelfen, aus denen sie sich ihre Kleider schneidert. Früher hat sie es wie die Armen gehalten: Am Sonntag Festkleidung – feine Strümpfe, Kostüm, Seidenhalstuch, Handtäschchen und Schuhe, in denen man leiden muss. An den Wochentagen ausgeleierte und ausgeblichene Sachen und die ausgetretensten Schuhe, die sie hatte. Aber mittlerweile ist auch diese Regel auf den Kopf gestellt: An den Wochentagen geht sie im Sonntagsstaat nach oben zum Arbeiten,und sonntags zieht sie die Sachen an, in denen sie wie eine Asylbewerberin
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