Die Welt aus den Fugen
ungewiÃ?
Das französische Kolonialregime in Tunesien war relativ lasch. Aber demokratische Formen konnten sich nicht entwickeln. Ich weià auch gar nicht, ob es empfehlenswert wäre für die Tunesier wie überhaupt die Nordafrikaner, unsere Demokratie zu kopieren. Sie können es selbst nicht wollen, wenn sie sehen, welche wirtschaftlichen und sozialen Probleme uns zu schaffen machen und wie ohnmächtig unsere Parlamente sind.
Sie müssen eine ganz andere, originäre Demokratie entwickeln?
Es muà dort eine Neugründung stattfinden. Da kann man nicht auf frühere Formen der Demokratie zurückgreifen. Die westliche Ãberlegenheit stützte sich auf das kapitalistische Wirtschaftsmodell. Doch dieser Kapitalismus degeneriert jetzt, ist nicht mehr der calvinistische, puritanische, sondern ein spekulationssüchtiger Kasino-Kapitalismus. Den kann man den Menschen in Nordafrika wirklich nicht anempfehlen. Welche Gesellschaftsform für sie gut ist, müssen sie selbst herausfinden.
In Ãgypten stehen die Wahlen noch an. Werden diese die Muslimbrüder gewinnen?
Wenn es zu freien Wahlen kommt, voraussichtlich ja. Noch aber hat in Ãgypten der Verteidigungsminister des gestürzten Diktators Mubarak, Marschall Tantawi, das Heft fest in der Hand. Das Militär regiert das Land, beinah noch totaler als unter Mubarak. Tantawi ist im Grunde mit mehr Vollmachten ausgestattet als Mubarak vordem.
Die Muslimbrüder hatten einst die Ãrztekammer, die Anwaltskammer, die Handelskammer beherrscht. Das hat Mubarak gedämpft, er hat ihnen Einfluà entzogen. Die Muslimbrüder sind inzwischen relativ vernünftige Leute, keine Halsabschneider mehr.
Die neuerlichen Ãbergriffe in Kairo Anfang Oktober auf Christen lassen aber Schlimmes fürchten.
Die Ãberfälle auf die christlichen Kopten sind meiner Ansicht nach gezielte Manöver einer gewissen Gruppe, die eine gemäÃigt islamische Entwicklung verhindern will. Und das sehe ich als sehr gefährlich an, wie ich überhaupt die wahhabitische Richtung aus Saudi-Arabien als gröÃte Gefahr für die islamische Welt ansehe. Die Fellachen in den Dörfern, die ja nicht auf dem Tahrir-Platz in Kairo waren, hören auf den Imam, der am Freitag seine Predigt hält. Und die wurde früher von Mubarak vorgeschrieben. Heute ist das nicht mehr der Fall.
Und deshalb könnten sich radikale Islamisten durchsetzen?
Wenn die HaÃprediger aus Saudi-Arabien erfolgreich sind, könnte die noch gemäÃigte islamische Bewegung in eine militante Salafiya abgleiten. Es ist für mich unverständlich, daà das reaktionäre Regime in Riad vom Westen hofiert wird.
Auch Qadhafi hat der Westen lange unterstützt.
Daà der Auftraggeber des »La Belle«- und des Lockerbee-Attentats plötzlich vom »bad guy« zu einem »good guy« wurde, gehört für mich zu den schändlichsten Kapiteln der heuchlerischen Menschenrechtsdiplomatie des Westens.
Als der Beschluà über die Flugverbotszone fiel, hieà es, das Ziel sei nicht der Sturz von Qadhafi.
Das ist natürlich eindeutig das Ziel gewesen. Nur die deutsche Regierung bzw. die FDP hatte gemeint, sie könnte den Coup von Schröder beim Irakkrieg wiederholen. Und daà die Bevölkerung ihnen dies zugute halten wird. Diese Haltung hat in Washington einen miserablen Eindruck gemacht. Bemerkenswert ist auch, wie eng die Engländer und Franzosen zusammengearbeitet haben.
Sarkozy und Cameron kümmerten sich nicht um die ursprüngliche Auftragsbegrenzung der Vereinten Nationen. In aller Heimlichkeit waren ihre Elite-Kommandos zu den »Thuwar« gestoÃen, den »Revolutionären«, wie sich die Aufständischen selbst nennen. Sie haben ihnen die Grundregeln des bewaffneten Kampfes beigebracht. Für sie wurden Munition und Granatwerfer an Fallschirmen abgeworfen. Die Aufständischen hätten ohne diese massive Hilfe QadhafisTruppen nicht standgehalten. Viele Rebellen sind im »friendly fire« gestorben, als sie, unkoordiniert, die KüstenstraÃe vorpreschten, auf der schon Rommels Afrikakorps nach Kairo durchbrechen wollte.
Die NATO -Interventen wollten sicher schnell an die Ãlquellen.
Natürlich ging es beim Einsatz um Erdöl und Erdgas, aber vielleicht auch um heroische Reminiszenzen. Die Franzosen mögen sich an die kleine Schar »Forces françaises libres« des Generals de Gaulle
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