Die Welt aus den Fugen
aufstellen möchte.
140 Stämme und ihre Verzweigungen bilden die gesellschaftliche Grundstruktur Libyens. Der bedeutendste, der Stamm der Warfalla, zählt ungefähr eine Million Angehörige, während der Gruppe der Gaddafa von Oberst Qadhafi 125000 Menschen angehören. Dazu kommen die religiösen Bruderschaften, in Nordafrika »Zawiyan« genannt, deren mächtigste die Senussi-Gemeinde ist. Deren Einfluà reicht bis weit in die Sahelzone südlich der Sahara, sie hängt einer extrem strengen Auslegung der koranischen Botschaft und der Scharia an.
In der südlichen Wüstenregion des Fezzan haben die verschleierten Kamelreiter der Tuareg und der Tubu sich stets gegen jede Form von Zentralverwaltung gestemmt. Heute bilden die gefürchteten Tuareg ein Element der Unsicherheit.
Es wird sich in den kommenden Monaten zeigen, ob in ÂLibyen eine staatliche Ordnung entstehen kann oder ob die Vielzahl der ethnischen und religiösen Gegnerschaften chaotische Zustände bis hin zum Bürgerkrieg auslösen wird. Da der Präsident des Ãbergangsrates über keine populistische oder gar charismatische Ausstrahlung verfügt, richtet sich der Blick der Bevölkerung auf jene Warlords, die über eine lange ErÂfahrung der Verschwörung und des Partisanenkampfes verfügen.
Unter diesen erprobten Kämpfern, die ihre Erfahrung bei den Mujahidin Afghanistans gewonnen haben, gilt der strenggläubige Islamist Abdel Hakim Bel Haj als herausragende Persönlichkeit. Bel Haj übt bereits in der Hauptstadt Tripolis mit seinen Kampf- und Kontrollgruppen entscheidenden Einfluà aus. Für die Amerikaner ist er kein unbeschriebenes Blatt, war er doch längere Zeit in den Verhörzellen von Guantánamo eingesperrt.
Während in Tunesien die islamische En Nahda-Bewegung bei den ersten freien Wahlen als führende Kraft erstarkte, läÃt sich eine vergleichbare Entwicklung auch in Libyen voraussagen. Aber es ist bezeichnend, daà der als gemäÃigt und säkular eingeschätzte Ãbergangsrat von Bengasi als eine seiner ersten Anordnungen die Ausrichtung der neu zu gründenden Republik Libyen auf die koranische Gesetzgebung, auf die Scharia, vorschreibt.
Eiszeit im »Arabischen Frühling«
Interview, 25. 11. 2011 5
In Ãgypten eskaliert erneut die Gewalt. Ist der »Arabische Frühling « in Gefahr?
Vom »Arabischen Frühling« kann inzwischen keine Rede mehr sein. Es ist ein Wandel eingetreten, und es hat eine tiefe Erschütterung in der gesamten arabischen Welt gegeben. Von einer hoffnungsvollen Perspektive kann dabei im Moment aber keine Rede sein.
Auch dann, wenn wir über die Grenze Ãgyptens hinausblicken?
Das ruhigste Land ist im Moment zweifelsohne Tunesien. Auch die Wahlen sind dort regelmäÃig verlaufen und friedlich über die Bühne gegangen. Libyen hingegen, das ich erst vor wenigen Wochen besucht habe, steuert auf schwere Unruhen und vielleicht sogar auf einen Bürgerkrieg zu. Es sind Stammeskriege und auch religiöse Auseinandersetzungen zu erwarten, die wir nicht werden kontrollieren können. Dann haben wir noch Syrien, den Jemen und auch Bahrain, wo Gewaltexzesse an der Tagesordnung sind. Und dann ist da auch noch der Irak, von dem derzeit kein Mensch mehr redet, der aber â wenn die Amerikaner Ende des Jahres komplett abziehen â ebenfalls explodieren wird. Es gibt also wirklich keinen Grund, von einem Frühling zu reden.
Kommen die neuen Gewaltausbrüche in Ãgypten für Sie überraschend?
Allein die Tatsache, daà es in Ãgypten überhaupt zu einem Aufstand gekommen ist â ich meine die ersten Proteste im Januar und Februar dieses Jahres â, war für alle Spezialisten überraschend. Ich war wenige Tage vor Beginn der ersten Unruhen noch in Kairo gewesen und habe mit sehr erfahrenen, perfekt arabisch sprechenden westlichen Experten gesprochen. Mit Leuten, die teilweise seit vierzig Jahren dort leben und von denen einige sogar zum Islam konvertiert sind. Sie alle äuÃerten sich überzeugt: Bei uns gibt es keine Unruhen. Und dann explodierte die Lage doch.
Und inzwischen?
Inzwischen haben die Proteste eine Eigendynamik entwickelt. Ich würde nachträglich sagen, daà moderne elektronische Medien wie Facebook die Sache mit ins Rollen gebracht haben, mittlerweile aber kaum noch eine Rolle spielen.
Sind die am Montag beginnenden
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