Die Welt aus den Fugen
Dynastie Saudi-Arabiens an den Pranger zu stellen, obwohl sich inzwischen erwiesen hat, daà aus den Reihen der fanatischen Wahhabiten, die dort die höchste religiöse Autorität ausüben, die Terrorgruppen von El Qaida hervorgegangen sind.
Zur völkerrechtswidrigen Invasion gegen die revoltierende Insel Bahrain durch saudische Panzerkolonnen hat sich kaum eine Stimme des Protests erhoben. An dieser Stelle hüllen sich die westlichen Prediger von Menschenrechten und freier Volksentscheidung in das bislang praktizierte heuchlerische Schweigen.
Wundert es da, wenn ein hoher Funktionär der Nationalen Befreiungsfront, die einst die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich erkämpfte, dem damals noch in Tripolis ausharrenden Qadhafi zu Hilfe kam und sich vor laufender Kamera zu dem Ausruf hinreiÃen lieÃ: »Allah möge die Demokratie verfluchen«, eine ÃuÃerung, die im Westen als Gotteslästerung empfunden wird.
Statt dessen ist eine ganz andere Figur wie ein mächtiger Magier und Hoffnungsträger auf den Plan getreten. Der türkische Regierungschef Erdogan hat die Schauplätze der »Arabellion« aufgesucht. Er verfügt im Vergleich zu europäischen Staatsmännern über den immensen Vorteil, sich inmitten einer ergriffenen Masse gläubiger Muslime beim gemeinsamen Gebet in Richtung Mekka verneigen zu können. Eine neue tragende Rolle der Türkei ist plötzlich sichtbar geworden, und Erdogan scheint an die GröÃe des Osmanischen Reiches anknüpfen zu wollen. Schon wird von einer Achse AnkaraâKairo gesprochen.
In Saudi-Arabien könnte dabei die Erinnerung an jene StrafÂexpeditionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkommen, die der Vizekönig und Khedive Mohammed Ali von Ãgypten im Auftrag des Sultans und Kalifen von Istanbul gegen den Beduinenaufstand der Wahhabiten-Sekte in die Einöde des Nedjd ausschickte. Diese Wüstenkrieger, aus denen die Dynastie des Hauses el-Saud hervorging, standen damals im Verdacht, die heiligen Stätten von Mekka und Medina besetzen zu wollen.
Wenn sich in Zukunft eine Interessengemeinschaft zwischen Türken und Ãgyptern gegen Saudi-Arabien herausbilden sollte, ginge es nicht um die Heilige Kaaba und das Grab des Propheten, sondern um den ungeheuerlichen Erdölreichtum dieses Königreichs, der bislang zur schamlosen Erpressung und Korrumpierung all jener Staaten, der USA zumal, benutzt wurde, deren Energiebedarf nicht zu sättigen ist.
GewiÃ, das sind Spekulationen. Die Amerikaner können im Falle einer konsequenten Abkehr von ihrer nahöstlichen EinfluÃsphäre eine Schwerpunktverlagerung zum Pazifik vollziehen oder in einen Isolationismus zurückfallen, der lange genug ihre auÃenpolitische Richtschnur war.
Für die Europäer hingegen, für die unmittelbaren Nachbarn dieser orientalischen Tumulte, geriete der Ãbergang des »Arabischen Frühlings« in einen frostigen arabischen Winter zu einer Belastung, der der zerstrittene Kontinent nicht gewachsen wäre. Das Abendland ist in keiner Weise gewappnet, den arabischen UngewiÃheiten mit Gelassenheit, SelbstbewuÃtsein, Sachkenntnis und auch mit der nötigen Sympathie zu begegnen.
»Gott allein weià es«
Interview, 28. 10. 2011 4
Herr Professor Scholl-Latour, was derzeit in Nordafrika geschieht, muà für Sie unglaublich aufregend sein. Hat Sie der »Arabische Frühling« überrascht?
Es war eine freudige Ãberraschung. Aber von Frühling kann nicht mehr die Rede sein. Es bleibt zu hoffen, daà der arabische Herbst nicht in einen frostigen Winter umschlägt.
Wieso sagen Sie das?
Weil die anfängliche Begeisterung Enttäuschung gewichen ist. In Tunesien sind die wirtschaftlichen Probleme nicht geringer, im Gegenteil. Obwohl nach dem Sturz des Tyrannen Ben Ali und seiner Kleptokraten die tunesische Jugend eine neue Gesellschaft in Würde und Selbstbestimmung hätte aufbauen können, floh sie in kleinen Barken übers Mittelmeer. Und wie zu erwarten war, ist die islamische Bewegung »En Nahda« als Sieger aus den Wahlen hervorgegangen.
Wie konnte es dazu kommen?
Die Tunesier sind freundliche und friedliche Menschen. Sie haben hundert neue Parteien gegründet, die weder ein Programm noch Führungspersönlichkeiten haben. Die jungen Leute, die die Jasmin-Revolution begonnen haben, sind zersplittert.
Eine wahre demokratische Erneuerung ist also
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