Die Welt aus den Fugen
charismatische Ben Bella hat ganz gute Ideen. Er sagt, die Sunna erlaubt eine Anpassung des ewigen Wortes Allahs an veränderte Umstände; jeder fromme Muslim soll sich um das Gemeinwohl und eine progressive Auslegung des Korans bemühen.
Und wie steht es in Syrien?
Wir wissen nicht, was dort wirklich passiert. Syrien bleibt geheimnisvoll. Der junge Charles de Gaulle sagte, als er in das französische Mandatsgebiet abkommandiert wurde: »In den komplizierten Orient brach ich mit einfachen Vorstellungen auf.«
In Syrien hat es immer Spannung gegeben. Ich war 1982 dort, als das Massaker von Hama stattfand, 20000 Menschen umgebracht worden sind. Das waren Auseinandersetzungen zwischen den schiitischen Alawiten, zu denen die Oberschicht und der Clan Assad gehören, und den Sunniten, die achtzig Prozent der Bevölkerung ausmachen. Aber auch da gibt es inzwischen eine Mittelschicht, die vor allem unter Bashar el-Assad ganz gut gelebt hat, von Schul- und Wirtschaftsreformen und Bankenmodernisierung profitierte. »Ehrenmorde« wurden unter Strafe gestellt. Jetzt hatte diese Mittelschicht das Bild Libyens vor Augen und ist nicht mehr so begeistert von einem totalen Umsturz.
Orientexperten haben nicht an einen Umsturz in Libyen geglaubt.
Weil der Lebensstandard der Libyer höher war als der aller anderen Afrikaner. Bildung und Emanzipation der Frau sind weiter gediehen. Ãhnlich wie im Irak unter Saddam Hussein. Aber das könnte sich jetzt alles wieder ändern. Keiner kann sagen, ob die im Ãbergangsrat vertretenen Intellektuellen sich gegen die »Freiheitskämpfer« behaupten können. Werden die Verfechter einer »Zivilgesellschaft«, was immer damit gemeint ist, gegen eine im Volk stark verwurzelte Religiosität ankommen? Wird es zu Fehden unter den Stämmen, zum Auseinanderdriften von Tripolitanien und Cyrenaika kommen? Werden somalische Verhältnisse das Land in den Würgegriff nehmen? Ich kann nur sagen: Allah wahduhu yaârif. Gott allein weià es.
Die Macht der Stämme
31. 10. 2011
Allmählich werden die genauen Umstände bekannt, wie der libysche Despot Muammar el-Qadhafi zu Tode kam. Qadhafi hat nicht wie der tunesische Machthaber Ben Ali bei der reaktionären Dynastie Saudi-Arabiens Asyl gesucht. Er hat sich auch nicht, wie der ägyptische Präsident Mubarak, auf einem Krankenbett im vergitterten Käfig des Justizpalastes vorführen lassen. Der libysche Beduinensohn hat bis zum Ende in der belagerten Stadt Sirte mit den Kriegern seines Stammes ausgeharrt.
Dadurch werden die Verbrechen und der blutige Terror, die Qadhafi während seiner 40-jährigen Willkürherrschaft ausübte, in keiner Weise gemildert. Aber all jene, die den Sturz dieses Gewaltmenschen herbeisehnten und eine Normalisierung der Verhältnisse in Libyen erhofften, entdecken mit Enttäuschung, daà die Rachegelüste der »Thuwar«, der Revolutionäre, mit der gleichen Unerbittlichkeit ausgetragen werden wie die ZwangsmaÃnahmen des früheren Regimes. Angesichts der im Orient vorherrschenden Mentalität ist daher nicht auszuschlieÃen, daà in etwa zwanzig Jahren dem heute geschmähten Tyrannen Qadhafi als Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit gehuldigt wird.
Die provisorische Ãbergangsregierung, die sich unter dem ehemaligen Justizminister Mustafa Abdel Jalil recht willkürlich und ohne demokratische Legitimation in Bengasi konstituierte, ist sich bewuÃt, daà sie ohne das massive Eingreifen französischer und britischer Kampfflugzeuge den Qadhafi-treuen Panzerkolonnen niemals hätte standhalten können. Jetzt fürchtet sie offenbar, daà die »Loyalisten« auch in Zukunft über eine starke Anhängerschaft verfügen könnten.
Acht Monate hat sich die Ãbergangsbehörde gesetzt, um die Ausarbeitung einer Verfassung und die Ausschreibung von freien Wahlen in Gang zu bringen. In dieser Phase des Ãbergangs ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Die groÃen Verkehrsachsen, die den riesigen Wüstenstaat durchziehen, werden durch wilde Kriegerhaufen kontrolliert, von denen nieÂmand weiÃ, welcher Autorität sie unterstehen. Auf keinen Fall werden diese »Katibas«, die nur darauf warten, ihre ererbten StamÂmesgegensätze mit der Waffe auszutragen, sich jenen Zufallsbehörden unterordnen, die der Vorsitzende des »Transitional Council« Abdel Jalil im ganzen Land
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