Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)
Wartezimmer war ein Paradies für Hypochonder. Dort bekam man nicht nur Geschmack auf
eine
Krebserkrankung. Dort bekam man Geschmack auf alle. »Final Destination« auf Rezept. Zum Glück hingen auch noch ein paar Fotos an den Wänden. Fotos von Menschen, die durch irgendwelche Berge wanderten. Berge, in denen es Lamas gab und kleine, hutzelige Männchen in bunten Klamotten. Hin und wieder standen neben den kleinen Bunten, große Khakifarbene: Europäer in »Outdoor«-Kleidung. Vermutlich die Onkologin mit ihrem Mann. Oder mit ihrer Freundin. Oder Großmutter. Die Gesichter waren so dermaßen von der Sonne gegerbt, dass eine Unterscheidung schwerfiel. Sie sahen alle irgendwie aus wie eine Mischung aus Dieter Bohlen und Thomas Gottschalk. Und während ich so auf die ärztliche Idylle in den Anden schaute, schoss mir ein Gedanke durch mein Hirn (das bald einen Schlag erleiden würde): Scheiße, die Leute auf den Bildern haben keinen Krebs. Die Onkologin nicht. Der ohne Zähne mit dem Lama tanzt, hat auch keinen Krebs. Der andere, der irgendwas den Berg hochträgt und ständig lächelt, hat keinen Krebs. Sein Rücken ist vermutlich im Arsch, aber Krebs hat er nicht!«
Dann war ich dran.
Um es kurz zu machen: Es war kein Lymphdrüsenkrebs, und meine Halsschlagader war auch völlig in Ordnung. Mit dem Üblichen: »Nehmen Sie ab, Herr Dolly, und ernähren Sie sich gesünder« hatten sich die Nebenbefunde erledigt.
Dafür waren die Nackenschmerzen wieder da. Mal schauen, ob Vladimir noch mal investiert hat. Sonst ist er die Tabellenführung los.
Packungsbeilagen
Ganz früher wollte ich mal Archäologe werden. Angefangen hat es im Sandkasten: Ich war ein Meister im Ausgraben längst vergessener Förmchen. Ich hab so lange gebuddelt, bis ich Förmchen aus der Zeit der ersten weißen Siedler in New Jersey gefunden hatte. Damals hatten die Kinder noch keine Fische, Blümchen oder Schmetterlinge aus Sand geformt, nein, den Sprösslingen der Siedler wurde schon im Sandkasten beigebracht, was das liebste Spielzeug für einen echten Amerikaner war (und ist): Revolver- und Kruzifix-Förmchen aus Holz oder Metall.
Später hatte ich dann entdeckt, wie spannend es war, unleserliche, alte Schriftstücke zu entziffern. Egal, ob es sich dabei um die Tagebücher meiner Schwester und ihrer Freundinnen, die handschriftlichen Notizen der Lehrer zu den bevorstehenden Klassenarbeiten oder die Liebesbriefe meiner Brüder handelte: Ich habe alles gelesen und auch verstanden und hin und wieder auch Kapital daraus schlagen können: »Okay, ich mähe den Rasen, aber wie erklärst du Mom die Sache mit den Kondomen?«
Danach entzifferte ich alles, was mir an alten Schriften vor die Augen kam: Die Zeugnisse meiner Eltern, die ganz anders aussahen, als sie uns Kindern immer erzählt hatten. Liebesbriefe meiner Großeltern und sogar die Korrespondenz meines Urgroßvaters, die der immigrierte Ire auf Gälisch verfasst hatte. Ich las und verstand alles.
Heute ist das anders. Heute verstehe ich nichts mehr, zumindest nicht, was auf den Packungsbeilagen meiner Medikamente steht. Okay, die Schrift an sich, das Lateinische eben, ist mir geläufig. Selbst die deutsche Sprache ist kein unüberwindbares Problem mehr für mich. Nein, es ist vielmehr die Schriftgröße, die mich scheitern lässt. Und natürlich die Drohkulisse, die jede gute Packungsbeilage aufbaut.
Beginnen wir mit der Schrift.
Sie ist grundsätzlich klein gehalten. Sehr klein. Man muss schon über Supermans Sehstärke verfügen, um Packungsbeilagen überhaupt erst einmal entziffern zu können – und dann hat man noch nichts verstanden. Mein Pubertierender zum Beispiel hat Augen wie Superman. Wenn er müsste, könnte er eine Packungsbeilage aus zwei Kilometern Entfernung lesen. Aber er muss nicht. Warum sollte er auch? Er hat weder schwere Beine noch Rücken-, Nacken- oder Knieschmerzen. Er hat, wenn überhaupt, nur pubertierenden Weltschmerz, der sich mit einem Außer-der-Reihe-Taschengeld hervorragend behandeln lässt.
Ich,
ich muss das Zeug aber lesen können. Obwohl ich – siehe oben – Meister im Entziffern ungewöhnlicher und auch unleserlicher Schriften bin, an den Packungsbeilagen scheitere ich immer wieder. Wenn ich im TV -Werbeblock meiner Lieblingssendung (eine, in der ältere Herren osteuropäische Frauen kaufen) schon höre: »Lesen Sie die Packungsbeilage …«, denke ich: »Nö, mach ich nicht. Kann ich nämlich nicht.« Und das macht mich depressiv.
Depressiv macht
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