Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)
»eigener Körper« sind. Das alles sind allerdings auch Gründe dafür, warum man montags kaum einen Termin beim Arzt bekommt. Weil eben
alle
beim Arzt sind. Sogar der Arzt, in dessen Wartezimmer man gerade sitzt, ist beim Arzt. Er hat sich beim Einsteigen in den 911 er den Ischiasnerv eingeklemmt. Oder die Schulter beim Golfspielen verrenkt. Oder er steht noch auf dem »Green« und versucht verzweifelt, den kleinen Ball ins vierzehnte Loch zu putten. Vielleicht macht er einfach nur blau, weil er nicht mehr hören kann, wie seine Patienten klagen: »Herr Doktor, bei mir zwickt es im Knie und im Hals, vielleicht auch im Rücken. Ach, reden Sie einfach mit mir!«
Und wer ist der Leidtragende?
Ich!
Neulich – es war natürlich ein Montag, war es wieder passiert. Ich hatte einen Termin um 14 Uhr bei meinem Lieblingsurologen. Prostata-Check war angesagt. Da freue ich mich immer ganz besonders drauf: Erst das Abtasten mit dem Zeigefinger, dann noch die Ultraschallgurke hinterher. Super. Besonders, wenn man nicht um 14 Uhr drankommt, sondern zweieinhalb Stunden warten muss. Genug Zeit, um sich in der Zwischenzeit Gedanken über das zu machen, was hinten rauskommt, wenn der Arzt reinkommt. Nach einer Stunde Warten traute ich mich endlich, mich bei der jungen Russin (die den Sprachduktus einer Erzieherin aus einem sowjetischen Umerziehungslager hatte) zu beschweren.
»Ich hatte einen Termin um 14 Uhr, und jetzt ist es 15 Uhr durch. Wann komme ich denn endlich dran?« Sie schaute gelangweilt auf die vor ihr liegenden Patientenkärtchen.
»Warum haben Tärmin?«
»Vorsorge Prostata«, antworte ich in fließendem Russisch.
Sie schaute noch mal auf ihre Unterlagen und sagte dann: »Tutt mirr leid, aber Doktor noch nicht im Haus.« So ganz hatte ich den Zusammenhang zwischen der Untersuchung, die mir bevorstand, und dem »Doktor noch nicht im Haus!« nicht verstanden. Wäre er im Haus, wenn es um eine Blasenentzündung gegangen wäre? Aber ich wollte die Russin nicht nach diesen unergründlichen Zusammenhängen fragen. Das hätte sie vielleicht verärgert, und ich müsste für 14 Tage in den Bunker: Selbstkritik üben. Also fragte ich nur: »Wie? Noch nicht im Haus? Ich hatte vor einer Stunde einen Termin, und ER ist noch nicht da?«
»Ja. Nicht da«, sagte sie, holte ihre Peitsche raus und versohlte mir mal so richtig kräftig den Hintern. Nein, das tat sie natürlich nicht. Sie sagte nichts weiter, ging einfach in ihr kleines Labor und rührte Urinproben an.
Boah, wie frech war das denn? Du liest zwanzigmal »Bild der Frau«, »Frau im Spiegel« und Artikel über »nymphomanische Nonnen beim Töpfern« in der Hoffnung, dass du irgendwann mal dran bist und der Herr Doktor sich endlich an deiner Prostata zu schaffen macht – und was passiert? Er ist noch nicht einmal in der Praxis!
Für einen Amerikaner – wie ich mal einer war – ist es nicht normal, montags zum Arzt zu gehen. Für Amerikaner ist es normal, in dicken Autos durch »Drive Throughs« zu fahren, um Geld abzuheben, Frappachinos zu trinken, einen Burger zu verputzen, eine Bank zu überfallen oder zu heiraten. All das ist für einen Ami normal. Hauptsache, man muss nicht aus dem Auto steigen, um das alles zu tun. Ich kenne tatsächlich Leute, die haben in Las Vegas geheiratet, nur weil sie zu faul waren, ihren fetten Popo aus dem Wagen zu schwingen! Aber das beantwortet nicht wirklich die Frage, wie sich Amerikaner medizinisch versorgen. Immerhin haben trotz »Obama Care« 45 Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung und noch ein paar mehr Millionen Amerikaner eine Krankenversicherung, die zwar alles bezahlt, nur keine Behandlung durch einen Arzt. Für Europäer und insbesondere für Deutsche ist das alles unvorstellbar. Es beginnt schon damit, wenn man einen Amerikaner in den USA nach einem Arzt fragt: »Sorry, but could you tell me, please, where there is a doctor near here?«
Wenn einen der Angesprochene dann nicht überfällt, weil die Gelegenheit gerade günstig ist, wird er zurückfragen: »A doctor? What the fuck is that?«
Die meisten Europäer schrecken dann vor einem Besuch beim Ami-Arzt zurück, außer sie müssen unbedingt. So wie bei uns im letzten Familienurlaub in den USA , genauer, in New York.
Es war später Abend. Mein Sohn kam ins Wohnzimmer meiner Schwester und schaute mich mit großen Augen an. Beziehungsweise, er schaute mich mit
einem
großen Auge an. Tatsächlich war das rechte Augenlid doppelt so groß wie das linke.
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