Die Welt ist eine Bandscheibe (German Edition)
Irgendwas hatte ihn gestochen – ich tippte auf eine fliegende Klapperschlange – auf jeden Fall sah es wie ein medizinischer Notfall aus. Und das in den USA .
Ach, du Scheiße!
Aber egal. Ich bin ein verantwortungsvoller Vater und fuhr mit meinem Sohn und meiner Frau ins nächstbeste Krankenhaus. Wobei das mit dem »besten« im Wort »nächstbesten« nicht wörtlich zu nehmen war.
Wir gingen direkt in die Notaufnahme, und ich schrie wie ich es bei »Emergency Room« gelernt hatte: »Hello! I need a doctor! Please! A doctor. My son is collapsing!« Aber – ganz anders als in der Serie kam kein Arzt angerannt. Niemand rührte sich, obwohl neben reichlich Patienten auch einige blau bekittelte Menschen im Raum standen.
Nein, das stimmte nicht. Einer drehte sich um und guckte mich an, als dächte er: »Hey, du Spinner, das ist ein Krankenhaus, keine Psychiatrie!«
Wie gesagt, sonst passierte nichts. Und es saßen viele Patienten im Wartebereich. Einige lagen sogar auf den Bänken und starrten gelangweilt ins Nichts. Ein Patient schlief auf dem Gang. Er hatte offenbar eine schwerere Verletzung. Auf jeden Fall war sein T-Shirt blutüberströmt. Vermutlich eine Schussverletzung. Aber niemanden schien das zu beeindrucken. Vielleicht schlief der Mann ja auch gar nicht – vielleicht war er schon tot. Das wäre zumindest eine Begründung gewesen, warum sich niemand um ihn kümmerte, solange er keinen unangenehmen Geruch absonderte.
Ein anderer hatte keine Schuhe an und furchtbare Frostbeulen an seinen nackten Füßen. Vermutlich Erfrierungen aus dem letzten New Yorker Winter. Einige der Wartenden sprachen Spanisch, andere Arabisch. Ich glaubte, den einen oder anderen auch Englisch sprechen zu hören.
Weil mein Sohn wirklich erbärmlich aussah, ging ich zur Rezeption und sagte der Dame hinter dem Tresen: »Entschuldigung, mein Sohn ist ein Notfall.« Sie schaute kurz hoch, musterte erst meinen Sohn, dann mich. Sie drückte mir mehrere Zettel zum Ausfüllen in die Hand.
Die
erinnerten mich an Deutschland, nur nicht an eine deutsche Notaufnahme, sondern eher ans Ausländeramt und das Antragsformular zur Einbürgerung. Ich hatte das Gefühl, in der amerikanischen Notaufnahme wurde man erst einmal gemustert, um beurteilen zu können: Ist es eine Schussverletzung oder ein Messerstich? Kann beides ausgeschlossen werden, dann muss man halt warten. Ausnahmen wie der Herr, der noch immer im Gang lag, bestätigten die Regel. Aber der Mann war ja wie gesagt auch bestimmt schon tot.
Also warteten wir. Nach weiteren 30 Minuten wurden wir in einen großen Raum mit circa 300 Liegen geführt, jede einzelne konnte durch einen Vorhang abgetrennt werden. Kaum saß mein Sohn auf der Liege, kam schon eine circa vierzehnjährige Ärztin zu uns, schaute meinen Sohn kurz an, diagnostizierte eine Art exotischen Zeckenbiss, verschrieb eine Salbe und sagte: »Morgen ist die Schwellung wieder weg.«
Zack, das war’s.
Nein, das war es doch noch nicht. Die 60 Sekunden dauernde Untersuchung der minderjährigen Ärztin kostete uns 300 Dollar! Das jedenfalls behauptete eine völlig gelangweilte, müde Dame Mitte 50 . Sie saß an einer Kasse, die schwer an eine Supermarktkasse erinnerte, und hielt ihre Hand auf, damit ich ihr meine Kreditkarte hineinschieben konnte. Ich hatte mit 70 Dollar gerechnet, vielleicht 80 , weil wir Europäer oder 100 , weil wir Deutsche waren. Aber 300 ?
»Excuse me, please, 300 Dollars …? Wie kann ein Arztbesuch, der keine 60 Sekunden gedauert hat, 300 Dollar kosten?«
Was die Dame mir dann erklärte, war ebenso überraschend wie überzeugend: Der Besuch in der Notaufnahme wäre so teuer, weil man die ganzen anderen Patienten, die alle abhauten, ohne einen Cent vorher bezahlt zu haben, subventionieren müsste. Im Klartext: Jemand wurde angeschossen, wird anschließend in der Notaufnahme behandelt und hat die Kosten dafür natürlich nicht bezahlt. Aber wie es der Zufall so will, schneit ein paar Minuten später ein gewisser John Doyle aus Deutschland mit seinem Sohn Quentin und einem Zeckenbiss in die Notaufnahme und bezahlt ganz nebenbei die Behandlung der Schussverletzung!
Wow! Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: In America gibt es doch ein Solidarsystem! Es funktioniert zwar ganz anders als in Deutschland, aber es funktioniert: Du hast Kopfschmerzen und bezahlst die Messerstecherei in der Nachbarschaft. Du bist aufs Knie gefallen und sorgst dafür, dass auch die Opfer des »Drive By Shootings« versorgt
Weitere Kostenlose Bücher