Die Welt ohne uns
aufgewachsen ist. Obwohl er sich ganz dem Beton und Stahl verschrieben hat, bestaunt er doch alljährlich die Wunder der Natur: die Wanderfalkenküken, die hoch oben auf den Türmen der George Washington Bridge schlüpfen, und die Kühnheit, mit der Gräser, Kräuter und Götterbäume weit entfernt von allem Mutterboden in kleinen Metallnischen hoch über dem Wasser gedeihen. Die Natur führt einen fortwährenden Kleinkrieg gegen seine Brücken. Die Waffen und Truppen dieses Gegners nehmen sich lächerlich winzig neben dem stahlbewehrten Giganten aus, doch es wäre ein fataler Fehler, den unablässig herabregnenden Vogelkot gering zu schätzen, der Pflanzensamen enthält und gleichzeitig den Farbanstrich auflöst. Del Tufo kämpft gegen einen primitiven, aber unermüdlichen Feind, dessen Stärke vor allem in seiner Fähigkeit liegt, seinen Gegner zu überdauern. Daher hat Del Tufo sich längst mit der Tatsache abgefunden, dass die Natur am Ende gewinnen muss.
Allerdings nicht in seiner Amtszeit, wenn er es denn irgendwie verhindern kann. Zunächst und vor allem geht es ihm um das Vermächtnis, das er und seine Mannschaft übernommen haben: Ihre Brücken wurden von einer Generation von Ingenieuren erbaut, die beim besten Willen nicht ahnen konnten, dass sie eines Tages von mehr als 300000 Automobilen befahren würden – trotzdem sind diese Bauwerke noch achtzig Jahre später im Dienst. »Unsere Aufgabe«, erläutert er, »besteht darin, diese Schätze an die nächste Generation in besserem Zustand weiterzugeben, als wir sie übernommen haben.«
Die Bayonne Bridge, eröffnet 1931, ist eine der größten Stahlbogenbrücken der Welt und verbindet über den Kill van Kull hinweg Staten Island mit New Jersey. Die Unterseite der Rampe auf der Seite von Staten Island ist ein mächtiges Stahlgerüst, das in einem riesigen, im Grundgestein verankerten Betonblock zusammenläuft, einem Widerlager, auf dem das halbe Gewicht vom Hauptbogen der Bayonne Bridge lastet. Blickt man direkt in das Labyrinth der Doppel-T-Träger und Verstrebungen empor, die mit über einen Zentimeter starken Stahlplatten, Flanschen und mehreren Millionen fingerdicken Nieten und Bolzen verbunden sind, ist man nicht wenig beeindruckt: Etwas so Gewaltiges muss für die Ewigkeit bestimmt sein. Doch Jerry Del Tufo weiß sehr genau, dass diese Brücken unweigerlich einstürzen würden, wenn es keine Menschen mehr gäbe, die sich um sie kümmerten.
Es würde nicht sofort passieren, weil die unmittelbare Gefahr mit uns verschwände. Es sei nicht der unablässig rollende Verkehr, sagt Del Tufo.
»Diese Brücken sind so auf Sicherheit gebaut, dass der Verkehr einer Ameisenstraße auf einem Elefantenrücken entspricht.« In den dreißiger Jahren, als es noch keine Computer gab, mit denen sich die Belastbarkeit von Baustoffen exakt ausrechnen ließ, setzten die Ingenieure vorsichtshalber auf zusätzliche Masse. »Wir leben von der Überkapazität unserer Vorväter. Die George Washington Bridge allein hat genug galvanisierten Stahldraht in ihren acht Zentimeter dicken Tragseilen, um die Erde viermal zu umwickeln. Selbst wenn alles andere bräche, hielte dieses Kabel noch.«
Der schlimmste Feind ist das Salz, das jeden Winter auf die Fahrbahn gestreut wird, ein gefräßiger Stoff, der den Stahl angreift, nachdem er das Eis geschafft hat. Öl, Frostschutzmittel und Schneematsch, die von den Autos tropfen, schwemmen das Salz in Auffangbecken und Risse, wo das Wartungspersonal es ausfindig machen und beseitigen muss. Ohne Menschen gelangte kein Salz mehr auf die Brücken. Allerdings würden sie rosten, und das nicht zu knapp, wenn niemand mehr die Brücken streicht.
Zunächst bildet sich eine Oxidationsschicht auf den Stahlplatten, die mindestens zweimal so dick ist wie das Metall selbst und das Tempo der chemischen Zersetzung abbremst. Es könnte Jahrhunderte dauern, bis die Stahlteile vollständig durchgerostet sind und auseinanderfallen, doch New Yorks Brücken werden wohl teilweise schon vorher einstürzen. Der Grund dafür ist eine andere Spielart des Frost-Tauwetter-Dramas. Statt zu reißen wie Beton, dehnt Stahl sich bei Erwärmung aus und zieht sich bei Abkühlung zusammen. Damit sich Stahlbrücken im Sommer strecken können, brauchen sie Dehnungsfugen.
Im Winter, wenn sie schrumpfen, vergrößern sich diese Dehnungsfugen, woraufhin alles mögliche Material hineingeweht wird. Wo das geschieht, hat die Brücke weniger Platz, sich auszudehnen, wenn es wieder
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