Die Welt ohne uns
Trotzdem bleibt die magische Version haften, weil die umgebenden Tuffhügel nicht nur von Wind und Wasser geformt wurden, sondern auch von erfinderischen Menschenhänden. Kappadokiens Städte sind weniger auf als vielmehr in das Land hineingebaut worden.
Das Material ist so weich, dass sich ein entschlossener Gefangener seinen Weg mit einem Löffel aus einem Tuffkerker graben könnte. An der Luft jedoch wird Tuff hart und bildet eine glatte, stuckartige Schale. Um 700 v.Chr. gruben Menschen mit Eisenwerkzeugen Löcher in die Felshänge von Kappadokien; sogar die Märchentürme höhlten sie aus.
Schon bald war jede Felswand mit Löchern durchsiebt – einige groß genug für eine Taube, andere für einen Menschen und wieder andere für ein dreistöckiges Haus.
Die Taubenlöcher – Hunderttausende von bogenförmigen Nischen, die in Felswände und Spitztürme gegraben wurden – sollten aus eben jenem Grund Felsentauben anlocken, aus dem man versucht, ihre Vettern in modernen Städten zu vertreiben: wegen ihrer überreichen Kotproduktion. So begehrt war der Taubenguano, mit dem man hier die Weinberge und die ihrer Süße wegen begehrten Aprikosen düngte, dass an der Außenseite dieser Taubenschläge Verzierungen ausgemeißelt wurden, die ebenso kunstvoll waren wie diejenigen an Kappadokiens späteren Höhlenkirchen. Erst seit in den fünfziger Jahren der Kunstdünger hierher gelangte, legen die Kappodozier keine Taubenschläge mehr an, so wie sie auch keine Kirchen mehr bauen: Bevor die Osmanen die Türkei zum Islam bekehrten, wurden mehr als siebenhundert Kirchen in Kappadokiens Plateaus und Berghänge gehauen.
Heute sind einige der teuersten Immobilien dieser Gegend Luxusbehausungen, die in den Tuff gegraben wurden, mit protzigen Halbreliefs auf den Fassaden, die jeder Villa gut zu Gesicht stehen würden, und mit Gebirgsaussichten, die ihresgleichen suchen. Ehemalige Kirchen sind in Moscheen umgewandelt worden; der abendliche Muezzinruf, der von Kappadokiens eleganten Tuffwänden und Spitztürmen widerhallt, scheint eine Gemeinde von Bergen zum Gebet zu rufen.
Eines fernen Tages werden solche Höhlen von Menschenhand – und sogar die Naturhöhlen aus viel härteren Gesteinsarten als vulkanischem Tuff – abgetragen sein. Doch in Kappadokien werden die Spuren unseres flüchtigen Verweilens auf diesem Planeten länger erhalten bleiben als andernorts, weil sich die Menschen hier nicht nur in den Bergflanken des Plateaus verborgen haben, sondern auch unter der Erdoberfläche. Tief darunter. Sollten sich die Erdpole verlagern, die Gletscherschilde sich eines Tages ihren Weg durch die Zentraltürkei bahnen und alle Bauwerke weghobeln, die sich ihnen in den Weg stellen, so werden sie hier nur an der Oberfläche kratzen.
Niemand weiß, wie viele Untergrundstädte unter Kappadokien liegen. Acht hat man bislang entdeckt, dazu viele kleinere Dörfer, doch zweifellos gibt es noch mehr. Die größte, Derinkuyu, wurde erst 1965 entdeckt, als ein Einheimischer, der ein Hinterzimmer seines Höhlenhauses putzte, durch eine Wand brach und dahinter einen Raum entdeckte, den er noch nie gesehen hatte und der in einen weiteren Raum führte, der in einen weiteren Raum führte ... Schließlich fanden Archäologen, die sich auf die Erforschung solcher Höhlen spezialisiert hatten, ein Labyrinth miteinander verbundener Kammern, das mindestens 18 Stockwerke und 85 Meter tief in in die Erde hinabreicht, 30000 Menschen Platz bietet und erst teilweise ausgegraben ist. Ein Tunnel, der so breit ist, dass drei Menschen nebeneinander in ihm gehen können, stellt die Verbindung zu einer anderen, zehn Kilometer entfernten unterirdischen Stadt her. Weitere Verbindungsgänge legen die Vermutung nahe, dass einmal ganz Kappadokien, ober- und unterhalb des Erdbodens, durch ein unsichtbares Netz verbunden war. Viele Einwohner benutzen diese Gänge heute als Kellerräume.
Wie bei einem Canyon liegen die ältesten Segmente der Oberfläche am nächsten. Einige Forscher vertreten die Ansicht, die ersten Erbauer seien in biblischer Zeit die Hethiter gewesen, die sich unter der Erde einrichteten, um vor marodierenden Phrygern Schutz zu suchen. Murat Ertugrul Gülyaz, Archäologe am kappadokischen Nevºehir-Museum, ist zwar auch davon überzeugt, dass hier Hethiter lebten, bezweifelt aber, dass sie die Ersten waren.
Gülyaz war an der Ausgrabung von Åhoikli Höyük beteiligt, einem kleinen kappadokischen Hügel, der die Überreste einer noch älteren
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