Die Welt ohne uns
noch verstärkte.
»Können Sie sich vorstellen, was das ist?« Thompson führt seinen Besucher unweit der Mündung am Ufer des Plym entlang. Wenige Stunden vor Aufgang des Vollmonds ist das Wasser fast zweihundert Meter vom Ufer zurückgewichen und legt ein sandiges Watt frei, das mit Blasentang und Herzmuscheln übersät ist. Eine Brise streicht über die Pfützen im Watt und lässt das Spiegelbild der Häuser auf dem Hügelhang erzittern. Thompson beugt sich über den Spülsaum von Abfällen, die die ausrollenden Wellen vor sich hergeschoben haben, und sucht nach Identifizierbarem: Stücke eines Nylonseils, Spritzen, deckellose Kunststoffschachteln für Nahrungsmittel, ein halbes Rettungsfloß, zerbröckelte Überreste einer Polystyrolverpackung und ein buntes Durcheinander von Flaschenkappen. Am häufigsten sind die bunten Plastikstiele von Wattestäbchen. Aber da gibt es auch die seltsamen kleinen Einheitsformen, nach denen er seine Besucher stets fragt. Zwischen Zweigen und Tang befinden sich in der Handvoll Sand, die er als Probe genommen hat, zwei Dutzend blaue und grüne Plastikzylinder, ungefähr zwei Millimeter groß.
»Sie heißen Pellets. Bei der Herstellung von Kunststoffobjekten dienen sie als Rohmaterial. Man schmilzt sie ein, um alle möglichen Dinge herzustellen.« Er geht ein paar Schritte weiter, dann nimmt er wieder eine Handvoll Sand auf. Er enthält weitere solcher Kunststoffteilchen: blassblaue, grüne, rote und gelbbraune. Jede Handvoll, so schätzt er, enthält rund 20 Prozent Kunststoff, und in jeder sind mindestens 30 Pellets.
»Heute finden Sie diese Dinger praktisch an jedem Strand. Anscheinend kommen sie aus irgendeiner Fabrik.«
Doch es gibt nirgendwo in der Nähe eine Kunststofffabrik. Die Pellets sind von irgendeiner Strömung über große Entfernungen hierhergetragen und angespült worden – von Wind und Gezeiten gesammelt und abgeschliffen.
In Thompsons Labor an der University of Plymouth packt der Doktorand Mark Browne Sandproben aus, die von einem internationalen Netzwerk von Forschern in durchsichtigen Plastiktüten geliefert werden. Er schüttet diese Proben in einen Scheidetrichter mit einer konzentrierten Meersalzlösung, um die Kunststoffteilchen aufschwimmen zu lassen. Einige, die er zu erkennen glaubt, filtert er aus – etwa Stücke der allgegenwärtigen bunten Stiele von Wattestäbchen –, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen. Alles, was wirklich ungewöhnlich ist, kommt unter das FTIR-Spektrometer.
Alles zu identifizieren dauert mehr als eine Stunde. Bei einem Drittel handelt es sich um Naturfasern wie Seetang, bei einem weiteren Drittel um Kunststoff und bei einem letzten Drittel um unbekannte Dinge – mit anderen Worten, um Dinge, für die es in der Polymer-Datenbank des Labors keine Entsprechungen gibt oder die so lange im Wasser waren, dass die Farbe abgebaut wurde, oder die zu klein für ihr Gerät sind: Es analysiert nur Objekte bis zu einer Größe von zwanzig Mikrometer – etwas dünner als ein menschliches Haar.
»Das heißt, wir unterschätzen die Menge an Kunststoff, den wir finden. Tatsache ist, dass wir einfach nicht wissen, wie viel sich da draußen herumtreibt.«
Allerdings weiß er, dass es sehr viel mehr ist als je zuvor. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte der Plymouther Meeresbiologe Alistair Hardy einen Apparat, den ein Forschungsschiff in der Antarktis an einem Seil zehn Meter unter der Wasseroberfläche hinter sich herschleppen konnte, um Proben des Krills zu nehmen – jener ameisengroßen, krebsartigen Tiere, auf den sich ein Großteil der Nahrungskette dieser Erde gründet. In den dreißiger Jahren änderte Hardy sein Gerät so ab, dass es noch kleineres Plankton messen konnte. Mit Hilfe eines Flügelrads wurde ein Seidenband abgerollt, ähnlich den Handtuchautomaten in öffentlichen Toiletten. Wenn die Seide über eine Öffnung gezogen wurde, filterte sie aus dem hindurchströmenden Wasser das Plankton heraus. Jede Rolle Seide konnte Proben über eine Strecke von 500 Seemeilen nehmen. Hardy bewog englische Reedereien, die ihre Schiffe auf den Handelsrouten im Nordatlantik fahren ließen, seinen »Continuous Plankton Recorder« mehrere Jahrzehnte hinter sich herzuschleppen. Auf diese Weise legte er eine Datenbasis an, die so wertvoll für die Meeresforschung war, dass er schließlich geadelt wurde.
Er nahm so viele Proben in den Gewässern rund um die Britischen Inseln, dass nur jede zweite untersucht wurde. Jahrzehnte
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