Die Welt ohne uns
oben auf einen vergoldeten Himmel in fast sechzig Metern Höhe und ruft im Betrachter ein Empfinden hervor, in dem sich Schwindel und Staunen mischen.
Im Laufe von mehr als tausend Jahren ist das Gewicht der Kuppel zusätzlich auf so viele verdoppelte Innenmauern, ergänzende Halbkuppeln, Schwibbogen, Zwickel und robuste Eckpfeiler verteilt worden, dass der türkische Bauingenieur Mete Sözen glaubt, auch ein größeres Erdbeben könne die Kuppel nicht so leicht aus ihrer Verankerung reißen. Das war nämlich das Schicksal der ersten Kuppel, die nur zwanzig Jahre nach ihrer Vollendung im Jahr 537 n. Chr. herabstürzte. Dieses Missgeschick war der Grund für alle späteren Verstärkungen; doch auch so fügten Erdbeben der Kirche (die 1453 eine Moschee wurde) zweimal schwere Schäden zu, bis Mimar Sinan, der bedeutendste Architekt des Osmanischen Reiches, sie im 16. Jahrhundert restaurierte. Die eleganten Minarette aus osmanischer Zeit, die man angefügt hat, werden sicherlich eines Tages zerfallen, doch Sözen glaubt, dass selbst in einer Welt ohne Menschen, also auch ohne Maurer, welche die Wände neu verfugen könnten, große Teile der Hagia Sophia und anderer alter Gemäuer sehr viel länger erhalten bleiben werden.
Was sich leider nicht vom Rest seiner Geburtsstadt behaupten lässt. Nicht dass es nicht mehr die gleiche Stadt wäre. Im Laufe der Geschichte hat Istanbul alias Konstantinopel alias Byzanz, so viele Herrscher gesehen, dass sich kaum vorstellen lässt, dass diese Stadt von Grund auf verändert oder gar zerstört werden könnte. Doch Mete Sözen ist davon überzeugt, dass das eine bereits geschehen ist und das andere unmittelbar bevorsteht, egal, ob es dann noch Menschen gibt oder nicht. In einer Welt ohne Menschen ist der einzige Unterschied, dass niemand mehr da sein wird, um Istanbuls Stücke aufzusammeln.
Als Dr. Sözen, Lehrstuhlinhaber für Bauingenieurwesen an der Purdue University in Indiana, 1952 die Türkei verließ, um zu promovieren, hatte Istanbul eine Million Einwohner. Ein halbes Jahrhundert später sind es fünfzehn Millionen. Dieser Sprung ist seiner Meinung nach ein weit größerer Paradigmenwechsel als die bisherigen Wandlungen – von den Ursprüngen im Dunkel der griechischen Antike zur römischen, zur byzantinischorthodoxen, zur katholischen Stadt der Kreuzfahrer und schließlich zur muslimischen Metropole – in all ihren osmanischen und türkischrepublikanischen Schattierungen.
Dr. Sözen sieht diesen Unterschied mit den Augen des Ingenieurs. Während die Kulturen aller früheren Eroberer sich selbst großartige Denkmäler setzten wie die Hagia Sophia oder die fast ätherisch anmutende Blaue Moschee, manifestiert sich die Gegenwart der heutigen Massen in mehr als einer Million mehrstöckiger Gebäude, die in Istanbuls enges Straßennetz gezwängt wurden – Gebäude, die nach Sözens Meinung die Lebenserwartung ihrer Bewohner entscheidend verkürzen könnten. 2005 warnten Sözen und eine Arbeitsgruppe von internationalen Architektur- und Erdbebenfachleuten die türkische Regierung, dass sich die Nordanatolische Verwerfung, die unmittelbar östlich der Stadt verläuft, binnen dreißig Jahren erneut verschieben wird. In diesem Fall würden mindestens 50000 Wohnblöcke einstürzen.
Sözen wartet noch immer auf eine Antwort, obwohl er bezweifelt, dass irgendjemand eine Ahnung habe, wo mit den Maßnahmen begonnen werden müsste, die seine Gruppe zur Abwendung der Bedrohung für unumgänglich hält. Im September 1985 reiste Sözen im Auftrag der US-amerikanischen Regierung nach Mexico City. Er wollte wissen, wie es möglich war, dass die dortige amerikanische Botschaft ein Erdbeben der Stärke 8,1 überstanden hatte, das fast tausend Gebäude zum Einsturz brachte: Das umfangreich verstärkte Botschaftsgebäude, das er schon einmal ein Jahr früher untersucht hatte, war unversehrt, doch in beiden Richtungen der Avenida Reforma und angrenzender Straßen waren viele Bürohochhäuser, Wohnblocks und Hotels eingestürzt.
Es war eines der schlimmsten Erdbeben in der Geschichte Lateinamerikas. »Es beschränkte sich aber größtenteils auf die Innenstadt. Was in Mexiko City geschehen ist, dürfte gemessen an dem, was Istanbul erwartet, noch harmlos gewesen sein.«
Beiden Katastrophen, der vergangenen und der künftigen, ist der Umstand gemeinsam, dass fast alle Gebäude, die einfach einstürzen, nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut wurden. Die Türkei nahm am Krieg zwar nicht teil, litt
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