Die Welt ohne uns
aber unter seinen wirtschaftlichen Folgen wie alle anderen Länder. Als sich die Industrie während des europäischen Nachkriegsaufschwungs erholte, wanderten Tausende von Kleinbauern auf der Suche nach Arbeit in die Städte ab. Auf der europäischen wie der asiatischen Seite des Bosporus wuchsen in Istanbul sechs- und siebenstöckige Häuser aus Stahlbeton empor.
»Doch der Beton«, so Mete Sözen, »hat nur ein Zehntel der Qualität, die er beispielsweise in Chicago hat. Haltbarkeit und Qualität des Betons hängen davon ab, wie viel Zement verwendet wird.«
Damals beschränkten sich die Probleme auf wirtschaftliche und versorgungstechnische Schwierigkeiten. Doch mit Istanbuls Bevölkerungswachstum wuchsen auch die Probleme, weil man die Häuser einfach aufstockte, um mehr Menschen unterzubringen. »Die Stabilität eines Gebäudes aus Beton oder Mauerwerk hängt davon ab«, erklärt Sözen, »welche Last der Unterbau zu tragen hat. Je mehr Stockwerke, desto schwerer das Gebäude.« Gefahren entstehen, wenn Wohnetagen auf Häuser gesetzt werden, in deren Erdgeschossen Läden oder Restaurants untergebracht sind. Meist handelt es sich dann nämlich um Gewerberäume mit freitragenden Decken, die im Inneren keine stützenden Säulen oder Wände haben, weil sie ursprünglich nicht mehr als ein Obergeschoss tragen sollten.
Erschwerend kommt hinzu, dass Stockwerke, die später hinzugefügt werden, mit denen der benachbarten Gebäude selten auf einer Höhe liegen, sodass die gemeinsamen Wände ungleichmäßig belastet werden. Schlimmer noch, so Sözen, wenn der obere Teil einer Wand offen gelassen wird, um die Räume zu belüften oder um Material zu sparen. Schwankt das Gebäude während eines Erdbebens, geben in durchbrochenen Wänden die Stützpfeiler unter dem Einfluss der Scherkräfte nach. In der Türkei findet man solche Aussparungen in Hunderten von Schulen. Überall in den Tropen, wo Klimaanlagen unerschwinglich sind – von der Karibik über Lateinamerika bis zu Indien und Indonesien –, dient diese Bauweise dazu, Wärme abzuführen und Durchzug zu schaffen. Auch in kühleren Gegenden findet man solche Schwachstellen häufig in Gebäuden ohne Klimaanlagen, etwa in Parkhäusern.
Im 21. Jahrhundert, wo mehr als die Hälfte der Menschheit in Großstädten lebt und die meisten Menschen arm sind, wird das Thema Stahlbeton in allen Tonarten durchgespielt: Auf dem gesamten Planeten werden Billigbauten hochgezogen, die in einer Welt ohne Menschen rasch wieder auseinanderfallen werden, besonders dann, wenn die Stadt in der Nähe einer Verwerfungszone liegt. Istanbuls enge, gewundene Straßen würden vom Schutt Tausender eingestürzter Gebäude so hoffnungslos verstopft werden, dass nach Sözens Einschätzung ein Großteil der Stadt dreißig Jahre lang einfach lahmgelegt wäre, bis die Folgen der ungeheuren Zerstörung beseitigt werden könnten.
Vorausgesetzt, es gäbe noch jemand, der die Aufräumarbeit übernehmen könnte. Falls nicht und falls Istanbul eine Stadt bleibt, wo im Winter regelmäßig Schnee fällt, hätten die Frost-Tauwetter-Zyklen mit dem Schutt des Erdbebens reichlich Material, das sie oberhalb von Pflastersteinen und Asphalt zu Sand und Erde recyceln könnten. Jedes Erdbeben löst Brände aus; ohne Feuerwehr werden die weitläufigen osmanischen Holzvillen am Bosporus mit ihrer Asche von längst ausgestorbenen Zedern zur Entstehung neuen Mutterbodens beitragen.
Obwohl die Kuppeln der Moscheen wie die der Hagia Sophia zunächst erhalten bleiben dürften, werden die Erdstöße doch ihr Mauerwerk gelockert haben und die Frost-Tauwetter-Zyklen werden so lange auf den Mörtel einwirken, bis die Ziegel und Natursteine zu fallen beginnen. Schließlich werden wie im 4000 Jahre alten Troja, 280 Kilometer die türkische Küste der Ägäis hinunter, nur noch die dachlosen Tempelwände Istanbuls bleiben – immer noch aufrecht, aber verschüttet.
Terra firma
Sollte Istanbul lange genug existieren und sein U-Bahn-System weiter ausbauen, einschließlich einer Linie unter dem Bosporus hindurch, die Europa und Asien verbände, würde sie vermutlich, da ihre Gleise keine Verwerfungszone durchquerten, noch erhalten – wenn auch vergessen – sein, lange nachdem die Stadt an der Erdoberfläche schon längst der Vergangenheit angehörte. (U-Bahnen allerdings, deren Tunnel geologische Verwerfungen kreuzen, wie etwa San Franciscos BART und New York Citys MTA, dürfte ein ganz anderes Schicksal beschieden
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