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Die Welt ohne uns

Die Welt ohne uns

Titel: Die Welt ohne uns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Weisman
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sein.) In der türkischen Hauptstadt erweitert sich das Nervenzentrum des U-Bahn-Systems zu einem weitläufigen unterirdischen Einkaufsviertel mit Wandmosaiken, Akustikdecken, elektronischen Reklameflächen und Einkaufspassagen – eine wohlgeordnete Unterwelt im Vergleich zur Kakophonie der Straßen darüber.
    Ankaras unterirdische Geschäftswelt; Moskaus Metro mit ihren tiefen Tunneln und von Kronleuchtern erhellten, museumsartigen U-Bahn-Stationen, die zu den elegantesten Orten der Stadt zählen; Montreal, dessen Metro-Stationen in der Innenstadt der »ville souterraine« angeschlossen sind, der »unterirdischen Stadt«, einem System aus insgesamt 30 Kilometern Tunnel, Einkaufspassagen und Restaurants: Alle diese Unterwelten gehören zu den Menschenwerken, welche die beste Aussicht haben, noch weit in zukünftige Epochen hinein zu überdauern. Obwohl Sickerwasser und Einbrüche an der Oberfläche diese unterirdischen Städte irgendwann erreichen werden, dürften die Gebäude, die ständig den Elementen ausgesetzt sind, eher zerfallen als Bauwerke, die jetzt schon unter der Erde liegen.
    Die ältesten allerdings werden sie nicht sein. Drei Stunden südlich von Ankara liegt Kappadokien, das »Land der schönen Pferde«, angeblich wegen der Zucht besonders rassiger Pferde in der Perserzeit. Doch das eigentlich Beeindruckende an dieser Region in der Zentraltürkei sind nicht Pferde, sondern etwas, das sich unter ihrer Oberfläche verbirgt.
     
    1963 entdeckte der Londoner Archäologe James Mellaart in der Türkei ein Fresko, das heute als das älteste Landschaftsbild der Welt gilt. Mit seinen acht- oder neuntausend Jahren ist es auch das älteste Kunstwerk, das auf einem von Menschenhand geschaffenen Untergrund entstand: einer glatt verputzten Mauer aus Schlammziegeln. Die Elemente des zweidimensionalen, zweieinhalb Meter langen Wandgemäldes, teils mit Ockerpigmenten in nassen Kalkgips gemalt, scheinen zunächst überhaupt keinen Sinn zu ergeben, doch aus dem Blickwinkel des Ortes, an dem es entdeckt wurde, ist seine Bedeutung unmissverständlich: Betrachtet man die Silhouette des 3200 Meter hohen Hasan Dað, der 65 Kilometer ostwärts liegt – ein lang gezogener, schroffer Berg, der die Hochebene von Konya überragt –, erkennt man in dem Fresko das Bild eines ausbrechenden Vulkans mit dem Doppelkegel des Hasan Dað. Unter der Darstellung des Berges befinden sich rechteckige Gebilde, die in ihrer Gesamtheit das primitive Grundmuster einer Stadt abbilden, die viele Historiker für die erste Großstadt der Erde halten: Çatal Höyük, zweimal so alt wie die ägyptischen Pyramiden und mit rund 10000 Einwohnern weit größer als das zeitgenössische Jericho.
    Alles, was von ihm geblieben war, als Mellaart zu graben begann, war ein flacher Erdhügel, der sich über Weizen- und Gerstefelder erhob. Als Erstes fand er Hunderte von Obsidianspitzen, welche die schwarzen Flecke auf der Darstellung des Vulkans erklären könnten, da der Vulkan Hasan Daö der Ursprung dieses Materials war. Doch aus bislang ungeklärten Gründen ist Çatal Höyük aufgegeben worden. Die Schlammziegelmauern der Behausungen sind in sich zusammengefallen und die Erosion schliff die Rechtecke ihrer Silhouette zu sanften Wellen ab. Weitere neuntausend Jahre, und auch diese Erhebungen dürften längst eingeebnet sein.
     
    Auf dem gegenüberliegenden Hang von Hasan Dað geschah jedoch etwas ganz anderes. Was heute als Kappadokien bezeichnet wird, begann als See. Im Laufe der Jahrmillionen füllten häufige Vulkanausbrüche das Becken mit immer neuen Ascheschichten, die am Ende einige hundert Meter hoch waren. Als der Kessel schließlich abkühlte, erstarrte die Asche zu Tuff, einem Gestein mit bemerkenswerten Eigenschaften.
    Ein gewaltiger letzter Ausbruch vor zwei Millionen Jahren stieß einen Lavastrom aus, der 26 000 Quadratkilometer grauen Staubtuff mit einer dünnen Basaltkruste überzog. Während sie sich verhärtete, wurde das Klima rauer. Regen, Wind und Schnee machten sich ans Werk, die Frost-Tauwetter-Zyklen brachen die Basaltdecke auf, sodass Feuchtigkeit einsickern und den Tuff darunter auflösen konnte. Durch die Erosion fiel der Untergrund stellenweise in sich zusammen. So blieben Hunderte von blassen, schlanken Spitztürmen stehen, alle mit einer pilzartigen Kappe von dunklem Basalt bedeckt.
    In Reiseführern heißen sie Feentürme, eine einleuchtende Bezeichnung, wenn auch nicht unbedingt die erste, die einem in den Sinn kommt.

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