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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Wissen und Willen – jene fundamentale und für die Welt verhängnisvolle Umstellung in Hitlers – ursprünglich streng auf das Nationale und die Rassenreinheit begrenzter – Zielsetzung verschuldet hat, die dann durch die Theorie des ›Lebensraums‹ in den Slogan ausartete: ›Heute ge
hört uns Deutschland, morgen die ganze Welt‹ – ein ebenso sinnfälliges Beispiel, daß eine einzige prägnante Formulierung durch die immanente Kraft des Wortes sich in Tat und Verhängnis umsetzen kann wie vordem die Formulierung der Enzyklopädisten von der Herrschaft der ›raison‹ schließlich in ihr Gegenteil, Terror und Massenemotion, umschlugen. Persönlich hat Haushofer in der Partei, soviel ich weiß, nie eine sichtbare Stellung eingenommen, ist vielleicht sogar nie Parteimitglied gewesen; ich sehe in ihm keineswegs wie die fingerfertigen Journalisten von heute eine dämonische ›graue Eminenz‹, die im Hintergrunde versteckt, die gefährlichsten Pläne ausheckt und sie dem Führer souffliert. Aber daß es seine Theorien waren, die mehr als Hitlers rabiateste Berater die aggressive Politik des Nationalsozialismus unbewußt oder bewußt aus dem eng Nationalen ins Universelle getrieben, unterliegt keinem Zweifel; erst die Nachwelt wird mit besserer Dokumentierung, als sie uns Zeitgenossen zur Verfügung steht, seine Gestalt auf das richtige historische Maß bringen.

    Dieser ersten Überseereise schloß sich nach einiger Zeit die zweite nach Amerika an. Auch sie geschah aus keiner anderen Absicht, als die Welt zu sehen und womöglich ein Stück der Zukunft, die vor uns lag; ich glaube, wirklich einer der ganz wenigen Schriftsteller gewesen zu sein, die hinüberfuhren, nicht um Geld zu holen oder journalistisch Amerika auszumarkten, sondern einzig, um eine ziemlich ungewisse Vorstellung des neuen Kontinents mit der Wirklichkeit zu konfrontieren.
    Diese meine Vorstellung war – ich schäme mich nicht, es zu sagen – eine recht romantische. Amerika war für mich Walt Whitman, das Land des neuen Rhythmus, der kommenden Weltbrüderschaft; noch einmal las ich, ehe ich hinüberfuhr, die wild und kataraktisch hinströmenden Langzeilen des gro
ßen ›Camerado‹ und betrat also Manhattan mit offenem, brüderlich breitem Gefühl statt mit dem üblichen Hochmut des Europäers. Ich erinnere mich noch, daß es mein erstes war, im Hotel den Portier nach dem Grabe Walt Whitmans zu fragen, das ich besuchen wollte; mit diesem Verlangen versetzte ich den armen Italiener freilich in arge Verlegenheit. Er hatte diesen Namen noch nie gehört.
    Der erste Eindruck war mächtig, obwohl New York noch nicht jene berauschende Nachtschönheit hatte wie heute. Es fehlten noch die brausenden Kaskaden von Licht am Times-Square und der traumhafte Sternenhimmel der Stadt, der nachts mit Milliarden künstlicher Sterne die echten und wirklichen des Himmels anglüht. Das Stadtbild sowie der Verkehr entbehrten der verwegenen Großzügigkeit von heute, denn die neue Architektur versuchte sich noch sehr ungewiß in einzelnen Hochbauten; auch der erstaunliche Aufschwung des Geschmacks in Schaufenstern und Dekorationen war erst in schüchternem Beginn. Aber von Brooklyn-Bridge, der immer von Bewegung leise schwingenden, auf den Hafen hinabzublicken und in den steinernen Schluchten der Avenuen herumzuwandern war Entdeckung und Erregung genug, die freilich nach zwei oder drei Tagen einem anderen, heftigeren Gefühl wich: dem Gefühl äußerster Einsamkeit. Ich hatte nichts zu tun in New York, und nirgendwo war damals ein unbeschäftigter Mensch mehr fehl am Ort als dort. Noch gab es nicht die Kinos, wo man eine Stunde sich ablenken konnte, noch nicht die kleinen bequemen Cafeterias, nicht so viele Kunsthandlungen, Bibliotheken und Museen wie heute, alles stand im Kulturellen noch weit hinter unserem Europa zurück. Nachdem ich in zwei oder drei Tagen die Museen und wesentlichen Sehenswürdigkeiten getreulich erledigt, trieb ich wie ein ruderloses Boot in den eisigen, windigen Straßen hin und her. Schließlich
wurde dieses Gefühl der Sinnlosigkeit meines Straßenwanderns so stark, daß ich es nur überwinden konnte, indem ich es durch einen Kunstgriff mir anziehender machte. Ich erfand mir nämlich ein Spiel mit mir selbst. Ich suggerierte mir, da ich hier völlig einsam herumirrte, ich wäre einer der unzähligen Auswanderer, die nicht wußten, was mit sich anzufangen, und hätte nur sieben Dollar in der Tasche. Tu also freiwillig das, sagte ich mir,

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