Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
des Himmels beantworten kann. Aus dieser unstillbaren Beunruhigung erwächst
Buddhas Erlösungslehre. »Wie der große Ozean nur einen Geschmack hat«, erklärte er den Mönchen, bevor er ins Nirwana einging,
»so haben meine Lehren und Regeln nur ein einziges Ziel – die Erlösung.« Seine Zuhörer standen auf und trugen, mit den Lippen
des dahingegangenen Meisters redend, seine Mission weiter in alle Welt.
Lässt sich Buddhas Botschaft von der hinduistischen Karma- und Samsara-Lehre befreien? Im Japanischen Zen-Buddhismus, den
ich gegen Ende des Kapitels ansprechen will, ist das gelungen. Buddhas Denken knüpfte jedoch an |54| die hinduistische Wiedergeburtsphilosophie an und setzt sie unbefragt, unkritisch voraus. Wie hätte er den ewigen Kreislauf
des Erleidens auch hinterfragen können? Schließlich kam Siddharta Gautama, der Sakya-Adelige, nicht von einem anderen Stern,
sondern wuchs selbst im Gedankengebäude des Hinduismus auf.
Judentum, Christentum und Islam haben sich die Wiedergeburt niemals wirklich zu eigen gemacht. Denn eine endlose Kette von
Reinkarnationen passt nicht in ihr westliches Denken, das von einer zeitlich begrenzten Weltdauer ausgeht, bei der die Schöpfung
aus dem Nichts entstanden ist und nun über Jahrtausende hinweg ihrem Ziel entgegengeht. Für sie hat die Welt ebenso wie jedes
einzelne Leben einen Anfang und ein Ende.
Einem Hindu erscheint unsere Anschauung absurd, die Seele könne plötzlich einfach da sein und irgendwann zwischen Zeugung
und Geburt in den Embryo eingehen. Wo, bitte, ist dann die Seele vorher gewesen? Wo kommt sie her? Dass sich die Seele ewig
auf Wanderung befindet, von einer Geburt zur anderen, ist im hinduistischen Denken unbestritten. Uneinigkeit gibt es erst
bei der Frage, wie sich die Seele dem Zeugungsvorgang ankoppelt. In diesem Punkt haben es die indischen Religionen niemals
zu einer abschließenden Antwort gebracht.
Wann das menschliche Leben im Mutterleib beginnt, bleibt auch für den Westen eine brisante Streitfrage, zum Beispiel in den
Debatten um die Schwangerschaftsunterbrechung und um das Klonen von embryonalen Stammzellen. Hier ist sogar die Gesetzgebung
des Staates berührt. Ist der Embryo vom ersten Zellwachstum an beseelt, müsste es dann nicht so etwas wie eine »embryonale
Selbstbestimmung« geben? Damit aber tun sich unsere Juristen schwer. Ihre indischen Kollegen können solche Probleme gelassener
angehen. Denn schließlich gleicht sich im Kreis der Wiedergeburten alles irgendwie wieder aus, auch eine Abtreibung: Ein weiblicher
Fötus hätte ohnedies ein schlechtes Karma: So denkt man in männerzentrierten Gesellschaften. Vielleicht findet seine Seele
beim nächsten Mal einen besseren Geburtsplatz, würde ein Hindu argumentieren. Westliche Gesellschaften diskutieren Fragen
wie die Stammzellenforschung und die Schwangerschaftsunterbrechung dagegen vor dem Hintergrund letzter und allerletzter Daseinsfragen.
Für sie ist das Leben einmalig und unwiederholbar. Mit dem Beenden des einen, aktuellen Lebens, mit dem Tod, ist es endgültig
und unwiederbringlich abgeschlossen.
Im 18. Jahrhundert meinte David Hume, der englische Philosoph und Verfechter der Aufklärung, allein die Lehre einer Seelenwanderung
könne das philosophische |55| Denken befriedigen, weil sich ihr die Frage nach dem mysteriösen Anfang der Seele erst gar nicht stelle. Viele seiner Zeitgenossen
empfanden ähnlich. Der Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg zum Beispiel, oder der junge Johann Wolfgang
von Goethe, der die Meinung vertrat: »Dieses Leben, meine Herren, ist für unsere Seele viel zu kurz!« Sie ließen sich allerdings
mehr spielerisch auf die Wiedergeburtsphilosophie ein, indem sie in ihr eine Möglichkeit sahen, das geistige und moralische
Niveau des Menschen über das allgemein menschliche Maß hinaus zu erheben. Im Verlauf vieler Geburten könne sich die menschliche
Persönlichkeit ständig höher entwickeln und irgendwann eine Stufe erreichen, die einem begrenzten Menschenleben verwehrt bliebe.
Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie und der Waldorf-Pädagogik, verfocht den Gedanken vom seelischen Reifungsprozess
am Anfang des 20. Jahrhunderts besonders energisch. Die Seele des Menschen läutere sich, so Steiner, im Laufe vieler Wiedergeburten,
»von Daseinsstufe zu Daseinsstufe«, indem das eine Leben das nächste schon vorbereite.
Die indischen Religionsphilosophen
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