Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann

Titel: Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnulf: Zitelmann
Vom Netzwerk:
des Himmels beantworten kann. Aus dieser unstillbaren Beunruhigung erwächst
     Buddhas Erlösungslehre. »Wie der große Ozean nur einen Geschmack hat«, erklärte er den Mönchen, bevor er ins Nirwana einging,
     »so haben meine Lehren und Regeln nur ein einziges Ziel – die Erlösung.« Seine Zuhörer standen auf und trugen, mit den Lippen
     des dahingegangenen Meisters redend, seine Mission weiter in alle Welt.
    Lässt sich Buddhas Botschaft von der hinduistischen Karma- und Samsara-Lehre befreien? Im Japanischen Zen-Buddhismus, den
     ich gegen Ende des Kapitels ansprechen will, ist das gelungen. Buddhas Denken knüpfte jedoch an |54| die hinduistische Wiedergeburtsphilosophie an und setzt sie unbefragt, unkritisch voraus. Wie hätte er den ewigen Kreislauf
     des Erleidens auch hinterfragen können? Schließlich kam Siddharta Gautama, der Sakya-Adelige, nicht von einem anderen Stern,
     sondern wuchs selbst im Gedankengebäude des Hinduismus auf.
    Judentum, Christentum und Islam haben sich die Wiedergeburt niemals wirklich zu eigen gemacht. Denn eine endlose Kette von
     Reinkarnationen passt nicht in ihr westliches Denken, das von einer zeitlich begrenzten Weltdauer ausgeht, bei der die Schöpfung
     aus dem Nichts entstanden ist und nun über Jahrtausende hinweg ihrem Ziel entgegengeht. Für sie hat die Welt ebenso wie jedes
     einzelne Leben einen Anfang und ein Ende.
    Einem Hindu erscheint unsere Anschauung absurd, die Seele könne plötzlich einfach da sein und irgendwann zwischen Zeugung
     und Geburt in den Embryo eingehen. Wo, bitte, ist dann die Seele vorher gewesen? Wo kommt sie her? Dass sich die Seele ewig
     auf Wanderung befindet, von einer Geburt zur anderen, ist im hinduistischen Denken unbestritten. Uneinigkeit gibt es erst
     bei der Frage, wie sich die Seele dem Zeugungsvorgang ankoppelt. In diesem Punkt haben es die indischen Religionen niemals
     zu einer abschließenden Antwort gebracht.
    Wann das menschliche Leben im Mutterleib beginnt, bleibt auch für den Westen eine brisante Streitfrage, zum Beispiel in den
     Debatten um die Schwangerschaftsunterbrechung und um das Klonen von embryonalen Stammzellen. Hier ist sogar die Gesetzgebung
     des Staates berührt. Ist der Embryo vom ersten Zellwachstum an beseelt, müsste es dann nicht so etwas wie eine »embryonale
     Selbstbestimmung« geben? Damit aber tun sich unsere Juristen schwer. Ihre indischen Kollegen können solche Probleme gelassener
     angehen. Denn schließlich gleicht sich im Kreis der Wiedergeburten alles irgendwie wieder aus, auch eine Abtreibung: Ein weiblicher
     Fötus hätte ohnedies ein schlechtes Karma: So denkt man in männerzentrierten Gesellschaften. Vielleicht findet seine Seele
     beim nächsten Mal einen besseren Geburtsplatz, würde ein Hindu argumentieren. Westliche Gesellschaften diskutieren Fragen
     wie die Stammzellenforschung und die Schwangerschaftsunterbrechung dagegen vor dem Hintergrund letzter und allerletzter Daseinsfragen.
     Für sie ist das Leben einmalig und unwiederholbar. Mit dem Beenden des einen, aktuellen Lebens, mit dem Tod, ist es endgültig
     und unwiederbringlich abgeschlossen.
    Im 18. Jahrhundert meinte David Hume, der englische Philosoph und Verfechter der Aufklärung, allein die Lehre einer Seelenwanderung
     könne das philosophische |55| Denken befriedigen, weil sich ihr die Frage nach dem mysteriösen Anfang der Seele erst gar nicht stelle. Viele seiner Zeitgenossen
     empfanden ähnlich. Der Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg zum Beispiel, oder der junge Johann Wolfgang
     von Goethe, der die Meinung vertrat: »Dieses Leben, meine Herren, ist für unsere Seele viel zu kurz!« Sie ließen sich allerdings
     mehr spielerisch auf die Wiedergeburtsphilosophie ein, indem sie in ihr eine Möglichkeit sahen, das geistige und moralische
     Niveau des Menschen über das allgemein menschliche Maß hinaus zu erheben. Im Verlauf vieler Geburten könne sich die menschliche
     Persönlichkeit ständig höher entwickeln und irgendwann eine Stufe erreichen, die einem begrenzten Menschenleben verwehrt bliebe.
    Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie und der Waldorf-Pädagogik, verfocht den Gedanken vom seelischen Reifungsprozess
     am Anfang des 20. Jahrhunderts besonders energisch. Die Seele des Menschen läutere sich, so Steiner, im Laufe vieler Wiedergeburten,
     »von Daseinsstufe zu Daseinsstufe«, indem das eine Leben das nächste schon vorbereite.
    Die indischen Religionsphilosophen

Weitere Kostenlose Bücher