Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
halten. Ihre Entwicklung
verlief jedoch ganz unterschiedlich: Der Buddhismus wurde Weltreligion, der Jainismus blieb auf den indischen Subkontinent
beschränkt, oder, besser gesagt, die Lehre Mahaviras schlug dort tiefere Wurzeln. Nicht zuletzt, weil der indische Buddhismus
sich abgehoben und elitär definierte, während es die Jainas verstanden, Frauen und Männer aus dem Laienstand dauerhaft an
sich zu binden.
Die Zentren der Jainas finden sich heutzutage in vielen Ländern, das Internet gibt Auskunft darüber. Und je länger ich mich
mit ihrer Philosophie befasse, um so stärker fasziniert sie mich. Dennoch wird sie mir fremd bleiben. Das junge Christentum
distanzierte sich schon früh von dualistischen Weltanschauungen nach Art des Jainismus, zuletzt durch Augustinus im 5. Jahrhundert.
Die Weltgemeinschaft verdankt ihnen trotzdem zwei Dinge: zum einen jene hoch entwickelte Mathematik Indiens, die uns die so
genannten »arabischen« Zahlen schenkte, zum anderen die Ahimsa-Bewegung, die Lehre von der Gewaltlosigkeit.
Die Jainas waren weltweit die ersten, die nachhaltige Tierschutzprogramme entwickelten. Unterkünfte für »Tiere in Not« entstanden
in Indien lange vor der christlichen Zeitrechnung. Ich wünschte mir, alle Menschen auf der Welt würden wie die Anhänger Mahaviras
solch eine tiefe Ehrfurcht vor dem Leben entwickeln! Die Gewaltlosigkeit ist schließlich kein weltfremdes Ziel mehr, sondern
eine Überlebensfrage der Menschheit.
Buddha im schulischen Lehrplan?
Während meiner schulischen Lehrtätigkeit habe ich mit den Schülerinnen und Schülern viele buddhistische Texte gelesen, analysiert
und besprochen. Einzelne |62| Sutras waren Gegenstand von Klausuren, mündlichen und schriftlichen Abiturprüfungen. Ganz bewusst wandte ich mich damit gegen
die Vereinnahmung Buddhas für exotische Teemischungen und esoterische Glücksversprechen nach dem Muster: »Freude in jedem
Augenblick! Buddhismus im Alltag!«
Die buddhistischen Texte machten es meinen Schülerinnen und Schülern nicht leicht. Ich war glücklich, wenn es ihnen gelang,
die philosophische Dimension eines Sutra zu thematisieren und zu bearbeiten. Die Lehrreden des Erleuchteten kommen in ihrer
überlieferten Form oft langweilig daher, überladen mit Wiederholungen, von ungezählten Mönchsgenerationen aktualisiert, erweitert
und ausgeschmückt. Sutras sind eben keine Lesetexte. Sie sind nicht fürs Auge geschrieben, sondern fürs Ohr gedacht, für die
laute Rezitation in der Mönchsgemeinde.
Bei der Lektüre ergaben sich immer wieder überraschende Fragen. Im Gleichnis vom »Barmherzigen Samariter« aus der Jesus-Überlieferung
hilft ein »Unberührbarer« spontan einem Reisenden, der zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber gefallen ist. Meint
das berühmte Metta-Sutra dasselbe, wenn es dort heißt: »Zur ganzen Welt entfalte man ein Herz voll Güte, unbeschränkt, von
Zwang und Hass und Feindschaft frei«? Sind Metta, die allumfassende Güte in der buddhistischen Lehre, und die Nächstenliebe
des Christentums identisch? Oder: Wenn Buddha Liebe und Mitleid lehrte und seine Zeitgenossen dazu bekehrte, dann kann etwas
an seiner Lehre nicht stimmen. Barmherziges Handeln setzt doch die freie Entscheidung des Menschen und damit den Menschen
als Subjekt voraus! Überhaupt, wie ist es möglich, dass im blinden Samsara plötzlich ein Retter auftritt? Gibt es, buddhistisch
gesehen, dann doch so etwas wie eine innerweltliche Heilsgeschichte? Das aber stünde im Widerspruch zur Karma-Lehre! Und schließlich:
Wer garantiert, dass Siddharta den Nirwana-Durchbruch tatsächlich erlebt hat? Solche Fragen sind freilich nur schwer zu beantworten,
erst recht im Unterricht der Schule, die als Institution westlichen Denkmustern verhaftet ist. Dennoch machten uns die Fragestellungen
sensibel. Sie öffneten nicht nur die Sutras, sie lüfteten auch unsere Köpfe und schärften unseren Verstand. Wir lernten, uns
in völlig andere religionsphilosophische Zusammenhänge hineinzudenken.
Viele Einzelheiten der ursprünglichen Botschaft Buddhas werden sich wohl nie mehr klären lassen. Dazu ist der zeitliche Abstand
einfach zu groß. Die Mönche haben seine Lehre tradiert, aber haben sie den Meister auch verstanden? Leider besitzen wir keine
Schriften aus seiner eigenen Hand. Genau wie bei Sokrates, genau wie bei Jesus.
|63| Konnten Buddha und Jesus überhaupt schreiben, lesen, rechnen? Natürlich
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