Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
aus Tibet. Er verließ mit 80 000 Anhängern seine Heimat, nachdem China die
tibetanische Mönchsrepublik zerschlagen hatte. Doch rief er nicht zum Heiligen Krieg auf, die einzigartige, jahrhundertealte
Kultur seines Landes gewaltsam zu verteidigen. Die Flüchtlinge ergriffen in der Krise die Chance, die klösterliche Isolation
des tibetanischen Buddhismus aufzubrechen. Zahllose buddhistische Zentren entstanden seitdem in Japan, Australien, Amerika
und Europa, die sich dem Dialog der Kulturen verpflichten. Getragen von der Überzeugung, dass die universale Buddha-Natur
allen Menschen gemeinsam sei. Dabei sieht der Dalai Lama gerade in der Verschiedenheit der Religionen ein notwendiges Mittel
der kulturellen Entwicklung. Es könne darum gar nicht erstrebenswert sein, betont er ständig, eine einzige Theorie der Welterklärung
als verbindlich für alle zu erklären. »Da aber Liebe wesentlich für alle Religionen ist, könnte man von einer universalen
Religion der Liebe sprechen. Hinsichtlich der Methoden zur Entwicklung der Liebe und zur Erlangung des Heils oder permanenter
Befreiung unterscheiden sich die Religionen jedoch voneinander. ... Die Tatsache, dass es so viele Darstellungen des Weges
gibt, ist ein Reichtum.« Weil auch ich daran glaube, stehe ich hier an meinem Schreibpult.
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|80| Judentum: Tora-Liebe
An zwei Bücher meiner Kindheit erinnere ich mich. Das eine war der bunte »Struwwelpeter«. So bunt, dass ich das Blut des Daumenlutscherbubs
fließen sehen konnte: »Schwups, da kommt der Schneider mit der Scher und schneidt den Daumen ab, als ob Papier es wär.« Der
Daumenlutscher, das war ich. Das andere Buch, in dem ich mich wiederfand, war die Bilderbibel, in Schwarz-Weiß, mit den Kupferstichen
des Schnorr von Carolsfeld.
Ich sehe Isaak gefesselt auf dem Opferaltar, schon hebt Abraham sein Messer, doch der Engel tritt dazwischen und spricht:
»Dies Kind soll unverletzet sein!« In einer Mischung aus Faszination und Grauen betrachtete ich damals diese Szene und sehe
noch jetzt, beim Schreiben, das Bild gestochen scharf vor mir, in allen Einzelheiten. Rechts das Gebüsch, in dem sich ein
gehörnter Widder verfangen hat, darüber, gewaltig vom Himmel kommend, der rettende Engel. Natürlich taucht auch David in meiner
Erinnerung auf. Der Hirtenjunge schwenkt das abgetrennte Haupt des Riesen triumphierend himmelwärts, David gegen Goliath,
welch ein ungleicher Kampf. Ich bin dabei, wenn Israel, angeführt von Moses, das Rote Meer durchschreitet und sehe über seinen
Verfolgern die Wassermauern zusammenbrechen. Alles in Schwarz-Weiß, aber nicht minder eindringlich wie der Struwwelpeter und
weitaus realer als die Schlote der »Ruhrchemie«, zwischen denen ich aufwuchs und die ihren blauroten Dampf in den ewig rußenden
Himmel meiner Kindheit qualmten. Rettungsgeschichten wie aus dem Familienalbum, die sich mir einprägten. Niemand sagte mir,
dass meine Bilderbibel die Familienchronik des jüdischen Volkes war.
Viel später erst, als ich schon erwachsen war und an der Universität studierte, wurde mir das Judentum in seiner Andersartigkeit
bewusst, als kritisches Gegenüber. Ich hatte von Hitlers Verbrechen am jüdischen Volk erfahren, fühlte mich verstört und schuldlos-mitschuldig.
Wie hatte das alles nur geschehen können? Wie passte das alles zu den Bildern meiner Kindheit? Ich hatte Glück. |81| Mein Professor rezitierte die Hebräische Bibel mit dem Charisma der alten jüdischen Gottesmänner, löwengleich grollend, und
wieder hatte ich die Erzählungen der Bibel leibhaftig vor Augen, dieses Mal in den Worten der Propheten Jesaja und Amos: »Wenn
ihr zu mir betet, mach ich die Augen zu, wenn ihr noch so viel betet, hör ich nicht hin. An euren Fingern klebt ja Blut!«
Und: »Ich |82| hasse, ich verabscheue eure Feste, eure Zusammenkünfte kann ich nicht riechen – eure Opfergaben nehme ich nicht an, euren
Dank schenke ich mir, eure Feiertagsmusik mag ich nicht hören. Recht soll vielmehr wogen wie Wasser, Gerechtigkeit wie ein
nie versiegender Strom!«
Gewaltig vom Himmel kommend, der rettende Engel.
»An euren Fingern klebt ja Blut!« – Israels oppositionelle Propheten trotzten der Königsmacht.
|82| Die Bibel erzählt Israels Geschichte
Stellen wir uns vor, wie ein jüdischer Vater seinem Sohn die Geschichte des jüdischen Volkes erklärt: anhand der Bibel, vielleicht
in Amsterdam, vor 300 Jahren. Die 300
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