Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
unterscheiden. Der Buddhismus außerhalb von Indien will das rettende Ufer des Nirwana mit einer ganzen Fähre voller Menschen
erreichen. Er nannte sich Mahayana, das Große Fahrzeug. Den strengen Buddhismus, dessen Mönche in vielen kleinen Booten alle
für sich dem Nirwana zustreben, bezeichneten die Mahayana-Buddhisten, ein wenig spöttelnd, als Hinayana, als Lehre vom Kleinen
Fahrzeug.
Heute sprechen wir lieber vom Südlichen Buddhismus, vom Theravada, den »Anhängern der Lehre der Alten«. Sie erheben den Anspruch,
die unverfälschte Weitergabe der Lehren Buddhas zu besitzen. Ihre Sutra-Sammlung wurde in der Pali-Sprache geschrieben, die
aus dem Mittelindischen des 12. Jahrhunderts stammt und heute als buddhistische Ritualsprache in Sri Lanka und in Hinterindien
fortlebt. In der eigenen Sprache des Sakyamuni ist uns nichts erhalten, ebenso wenig von den Überlieferungen aus der Zeit
vor dem so genannten Pali-Kanon. Und die gab es in bunter Fülle. Wir kennen nur die Überlieferung der Theravadins. Dabei bestehen
begründete Zweifel, ob diese wirklich Buddhas Lehre in ihrer ursprünglichen Form wiedergeben.
Die Mahayana-Gelehrten waren philosophisch ungemein produktiv. Sie errichteten imponierende Gedankengebäude, die für mich
verblüffende Ähnlichkeiten mit der Philosophie des Iren George Berkeley und des Preußen Immanuel Kant aufweisen. Diese gingen
im 18. Jahrhundert davon aus, dass wir unsere Welt im Kopf produzieren. Die Gehirnforscher stimmen ihnen heute natürlich zu.
Mit seinen 100 Milliarden Neuronen und einer halben Million Kilometer Nervenbahnen funktioniert unser Gehirn wie ein Riesensimulator.
Es formt die Welt nach seinen Zwecken und Bedürfnissen. Dasselbe erkannten die Philosophen des Mahayana, zum Beispiel der
große Narjuna, bereits im 3. Jahrhundert.
Zufällige Gemeinsamkeiten? Über Kontinente und Zeitsprünge hinweg? Berkeley, Kant, Luther, Shinran, Narjuna, Paulus – was
bedeuten solche Übereinstimmungen? Existieren universale Entwicklungstrends in der Kulturgeschichte? Der Philosoph Georg Wilhelm
Friedrich Hegel glaubte daran und entwarf vor fast 200 Jahren eine Religionsphilosophie, die Völker und Zeiten übergreifend
miteinander verband. Auch Buddhas Lehre interessierte ihn. Über |78| die buddhistische Mönchsreligion schrieb er: »Des Menschen Ziel heißt bei ihnen Nirwana. Die Priester werden von den Engländern
als ruhigste, edelste Menschen beschrieben, die zusammen leben, aber durchaus als stille, von besonderen Begierden freie Menschen
geschildert werden.« Wer dächte dabei nicht an den Dalai Lama! Leider war Hegels Datenbasis überaus schmal, in vielen Details
lassen sich seine Annahmen heute nicht mehr halten. Die Herausforderung aber bleibt, die menschliche Geschichte als Einheit
zu begreifen.
Tenzin Gyatso, der Buddha-Mönch aus Tibet
Eben dieser Herausforderung stellt sich unter allen Religionsführern besonders Tenzin Gyatso, der XIV. Dalai Lama. Mit einem
wahren Bienenfleiß zieht er aus den Blüten aller Religionen und Kulturen den Nektar. Vielleicht werde er bei seiner nächsten
Inkarnation als Honigbiene wieder geboren, scherzte er einmal. Der Friedensnobelpreisträger pflegt den Meinungsaustausch mit
Wissenschaftlern und Philosophen, empfängt täglich Menschen aus allen Religionen, fördert den interreligiösen Dialog in allen
Erdteilen. Denn alle Religionen, das ist sein Glaubensbekenntnis, sind Teile der einen großen Buddha-Wahrheit, die sich |79| der Menschheit in verschiedener Weise offenbart. In seiner Autobiographie schreibt er: »Jedes System hat seinen eigenen Wert;
es entspricht den unterschiedlichen Menschen mit ihren verschiedenen Voraussetzungen und geistigen Grundhaltungen. In dieser
Zeit vereinfachter weltweiter Kommunikation sollten wir deshalb verstärkt Anstrengungen unternehmen, die Systeme der anderen
kennen zu lernen. Das heißt nicht, dass wir eine Einheitsreligion schaffen sollten, sondern dass wir das gemeinsame Ziel der
vielen Religionen erkennen und die verschiedenen Methoden schätzen lernen, die sie für ihre innere Vervollkommnung entwickelt
haben.« Ich teile diese Sicht. Auch wenn die gegenwärtige Weltlage eher auf einen drohenden Kampf der Kulturen hinweist. Es
wächst zusammen, was zusammengehört. Doch, wie könnte es anders sein, unter Blut, Schweiß und Tränen.
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Tenzin Gyatso, der XIV. Dalai Lama.
|79| So sieht es auch Tenzin Gyatso, der Buddha-Mönch
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