Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
kostbare Stück sogar immer noch dort?
Die Klagelieder des Propheten Jeremia sind ein Echo auf die nationale Katastrophe: »Säuglingen klebt die Zunge am Gaumen vor
Durst, Kinder betteln um Brot, doch keiner bricht es ihnen. Die früher Leckereien verspeisten, verschmachten jetzt in den
Gassen, die ehemals Purpur trugen, liegen nun im Schmutz. Glücklich, wen das Schwert durchbohrte ... Wegen der Sünden der
Wahrsager aber ist es geschehen, wegen der Schuld seiner Priester – darum hat Jahwe seinen Grimm austoben lassen, die Glut
seines Zornes ausgegossen.« Viele Völker verloren bei einer Niederlage den Glauben an ihre Götter. Anders in Israel. Mitten
im Desaster erhebt sich Jahwe zu konkurrenzloser Größe. Schließlich war er es, der die Assyrer und Babylonier gegen sein eigenes
Volk Israel trieb. Unwissentlich wurden die Mächtigen der Erde zu seinen Helfershelfern. Einzelne Propheten hatten das göttliche
Eingreifen vorausgesehen, |88| doch erst das Babylonische Exil öffnete den Juden wirklich die Augen für die universale Größe ihres Gottes.
Das wandernde Gottesvolk
Ein ganzes Volk war in der Weltgeschichte unterwegs, um seinen Platz zu finden. Erwählt, stellvertretend für alle Völker,
errettet aus Pharaos Hand, sesshaft geworden im Gelobten Land. Israel war das erste Volk, das seine Existenz weltgeschichtlich
definierte. Dabei stellten die Juden, selbst zu ihren besten Zeiten unter David und Herodes, gerade mal 1,8 Prozent der Weltbevölkerung.
Heute sind es nur noch 0,2 von 100, und diese wohnen nicht nur im Staat Israel, sondern leben verstreut überall auf der Erde.
Neben den antiken Griechen gibt es kein anderes Volk, dessen Existenz in der Menschheit so unauslöschliche Spuren hinterließ.
Es hat die Welt religiös, politisch und kulturell revolutioniert. Albert Einstein, dessen Denken unser modernes Weltbild prägte,
ist nur ein Beispiel unter zahllosen anderen. Proportional, an seiner Bevölkerung gemessen, sind Juden zahlenmäßig unter allen
Nobelpreisträgern am stärksten vertreten. Und ist nicht das kleine Jerusalem so etwas wie die heimliche Hauptstadt der Welt?
Manchmal habe ich das Gefühl. Darum zu beneiden sind die Juden nicht.
Einerseits ist ihre Geschichte eine reine Erfolgsgeschichte, über weite Strecken aber zugleich eine Geschichte von Vertreibung,
Exil und Martyrium. Wie alle Völker möchte auch Israel am liebsten in Ruhe gelassen werden, in Ruhe und Frieden leben. Doch
die Geschichte vergönnt ihm keine Atempause. An der Existenz Israels brechen immer neue Konflikte auf.
Jahwe hatte seinem Volk keinen komfortablen Platz in der Weltgeschichte reserviert. Das Land der Erwählung hätte nicht schlechter
gewählt sein können. Äthiopien, Arabien, nur mal angenommen, wären als Heimstatt sicherer gewesen! Aber Palästina? Ein Küstenstreifen
am östlichen Mittelmeer, arm an natürlichen Häfen, dahinter Gebirgszüge, die östlich zur Wüste abfallen, ein Flüsschen mit
vielen Schleifen, nicht einmal befahrbar – ein Ländchen, kein Land, heute ungefähr halb so groß wie die Schweiz. – Ein Landstrich,
mit dem kein Staat zu machen war!
Im Süden die Hegemonialmacht Ägyptens, im Norden mächtige See- und Territorialstaaten, jenseits der östlichen Wüste die aggressiven
Mächte des Zweistromlandes. Und alle benutzen das Gelobte Land als Durchgangsstraße, |89| wenn sie ihre Armeen gegeneinander aufmarschieren lassen: Die Region gilt den Großmächten als strategisches Faustpfand. Hat
Jahwe mit Bedacht Israel nach Palästina verpflanzt, müsste er vorhergesehen haben, dass sein Volk dort nie zur Ruhe kommen
wird. Was dachte er sich nur dabei?
Als die jüdischen Exilanten nach zwei Generationen aus Babylonien zurückkehrten , machten sie sich an den Wiederaufbau ihres Landes, von dem nicht mehr viel übrig geblieben war. Es besaß kaum noch den Umfang
eines Landkreises und war auf eine unbedeutende Randprovinz der Zweistromlandreiche zusammengeschrumpft. In einem bescheidenen
Tempelneubau fand Gott Jahwe wieder eine Heimat. Israels Religion reorganisierte sich.
Allein, es blieb weiter unruhig in Palästina. Alexander der Große vereinnahmte es, als er um 333 vor unserer Zeit gegen die
persischen Provinzen zu Felde zog. Die Region wurde zum Zankapfel zwischen den nachfolgenden Dynastien der griechischen Seleukiden-Herrscher.
Einer von ihnen, Antiochus der Große, blieb als rabiater Judenverfolger in ewiger Erinnerung.
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