Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
nicht mehr«, verkündet Jesaja im 8. Jahrhundert vor unserer Zeit. Und weiter, im Blick auf
Israel: »Du zerbrichst das Joch, in das man sie steckte, den Schlagstock in Stücke, mit dem man sie trieb. Die Stiefel der
Herren, die auftreten mit Gewalt, ihre bluttriefenden Mäntel, sie werden verbrannt, zum Feuerfraß werden.« Jesajas endzeitliche,
eschatologische Vision überbietet selbst die Science-Fiction-Literatur. So voll sehnsüchtiger Erwartung ist die Utopie vom
zukünftigen Tag Jahwes, die der Prophet entwirft: »Der Wolf wird sich rollen beim Schaf, die Wildkatze bei den Ziegen schlafen.
Kalb und Löwenjunges fressen gemeinsam, ein Kind könnte sie hüten. Kuh und Bärin befreunden sich, ihre Jungen spielen zusammen,
der Löwe frisst Stroh wie das Rind, am Otterloch spielt der Säugling, das Kleinkind steckt die Hand ins Nest der Natter. Kein
Unrecht geschieht mehr, nicht länger wird Schaden gestiftet im ganzen Land unter meinem Dasein. Denn wie das Meer mit Wasser
ist das Land voll Gotteserkenntnis«, lässt der Prophet den Gott Israels sprechen. Wie tief muss die Erfahrung des Fremdseins
sitzen, wenn solche, alles überbietenden Visionen nötig sind, um die Hoffnung auf die Rettungsmacht Jahwes wach zu halten?
Jesaja plädierte für strikte Neutralität und forderte, Israel solle sich aus dem Gerangel der Großmächte heraushalten. Er
warnte: »Weh denen, die bei |92| Ägypten Hilfe suchen, mit gepanzerten Wagen rechnen und ihrer Zahl, mit schnellen Verbänden und ihrer Kampfkraft!« Seine Mahnung
war umsonst. Jerusalem rüstete auf.
Aus Nomaden wurden Gotteskrieger
Vertraut man den Geschichtsschreibern der Hebräischen Bibel, dann eroberte Moses Nachfolger Josua in einem spektakulären Siegeszug
das Gelobte Land: »Also schlug Joschua (Josua) das ganze Land, das Gebirge, das Südland, die Niederung und die Abhänge mit
all den Königen des Landes. Er ließ keine Überlebenden entkommen, alles, was atmete, weihte er der Ausrottung, wie es Jahwe,
der Gott Israels geboten hatte.« Der oben zitierte Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts fasst die biblischen Erzählungen
der Siege Josuas mit den Worten zusammen: »Josua, der würdige Schüler und Freund des großen Entschlafenen, übernahm nun den
Heerführer-Stab und unterwarf sich innerhalb eines Zeitraums von sechs Jahren beinahe ganz Kanaan. Zwar vereinigten sich die
Eingeborenen zum hartnäckigsten Widerstande und boten all ihre Kräfte auf, dem kühnen und glücklichen Eroberer im Laufe seiner
Siege Einhalt zu tun; aber vergebens waren die Kämpfe für Freiheit und Eigentum, vergebens ihre gewaltigen Anstrengungen,
die zahlreichen und grausamen Streiter Israels über den Jordan wieder zurück zu werfen – bei weitem der größere Teil dieser
Unglücklichen fiel unter den Schwertern der Hebräer.« Zum Glück war es nicht so. Was die Bibel über Josua erzählt, existierte
nur in den Köpfen der späteren Schreiber. Die historische Wirklichkeit sah völlig anders aus.
Semitische Nomadenstämme waren lange Zeit in Palästina eingesickert, dort, »wo Milch und Honig fließt«, denn das war die Nahrung
von Nomaden. Nach und nach wurden sie sesshaft, vertauschten ihre Zeltdächer mit einem festen Hausdach. Mit den kanaanitischen
Urbewohnern suchten sie keinen Streit. Man lebte friedlich nebeneinander, wie archäologische Funde belegen. Erst die spätere
Geschichtsschreibung machte aus den schaftreibenden Nomaden gefährliche Eroberer, die im Namen ihres Gottes handelten. Um
sich die Erinnerung an das Heimatland zu erhalten, erfanden die nach Babylon verschleppten Juden wahrscheinlich Josuas kriegerischen
Landnahme-Mythos. »Denn Jahwe, der Gott Israels, stritt für Israel« und schenkte seinen Stämmen das erbeutete Land. Diese
Tatsache verbürgte die Heimkehr aus der Fremde ins Gottesland.
|93| Um das Jahr 1000 vor unserer Zeit begann nach der friedlichen Landnahme Israels militante Königszeit. Dabei war es gar nicht
so sicher, ob sich die ehemaligen Nomaden überhaupt eine Monarchie wünschten. Viele hätten gern weiter in ihren losen Stammesverbänden
gelebt, in einer Art Basisdemokratie, ohne staatliche Zentralmacht. Der Widerstand gegen die Königsmacht durchzieht weite
Strecken der jüdischen Geschichte. Israels Könige legitimierten sich gegenüber der Opposition durch Kriege, die sie im Namen
Jahwes führten. Auf Geheiß Samuels, der ihn zum König salbte, rottete Saul zum
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