Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann

Titel: Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnulf: Zitelmann
Vom Netzwerk:
gewachsen sind: in einem lange währenden
     Prozess.
    Zum selben Ergebnis kommt die moderne kritische Bibelforschung. Unterschiede im Stil und im Gebrauch des Vokabulars, widersprüchliche
     Aussagen in den Texten sowie der Vergleich mit außerbiblischen Quellen führen uns die Entstehung der Bibel deutlich vor Augen.
     Aus der Sicht der Wissenschaft ist die Hebräische Bibel, das Alte Testament im christlichen Glauben, ein großer historischer
     Roman mit vielen Verfassern, die zu unterschiedlichen Zeiten an den einzelnen Texten arbeiteten und sich dabei auf ältere
     Quellen und Überlieferungen stützten. Sie schrieben nicht als Historiker, sondern weil sie fragten: Was lehrt uns die Geschichte?
     Die Antwort war einfach. Israel ging es gut, solange das Volk und seine Könige Jahwe die Treue hielten.
    Dass Gott persönlich dem Moses die Tora in die Hand drückte, ist eine |98| fromme Erfindung, die erst im Lauf der Zeit entstand – nachdem die Juden heimatlos geworden waren, den Tempel verloren hatten
     und verstreut in den Ländern anderer Herren leben mussten. Da war die Bibel das einzige Unterpfand Gottes, das ihnen geblieben
     war. Die »Fünf Bücher Moses« sind ein nationales Epos. Wie Homers Dichtungen vom Kampf um Troja.
    Ob es den Trojanischen Krieg jemals gegeben hat, darüber streiten die Gelehrten. Gewiss, historische Fakten stehen hinter
     Homers Dichtung, das bezweifelt niemand. Doch als Gesamtwerk ist das Epos dichterische Erfindung, mehr Dichtung als Wahrheit.
     Die Zeitgenossen allerdings nahmen die Worte Homers als bare Münze. Der gemeinsame Kampf um Troja, auch wenn er nie stattgefunden
     hatte, gab den griechischen Völkerschaften über alle Stammesgrenzen hinweg das Bewusstsein nationaler Zusammengehörigkeit.
    Die Komposition der »Fünf Bücher Moses« fällt fast in die gleiche Epoche und erfüllte denselben Zweck. Im Auszug aus Ägypten,
     in Moses Gesetzgebung am Sinai, in der Eroberung Kanaans, erfanden die Juden ihr nationales Profil.
    In seiner Frühzeit war das Judentum noch keine Buchreligion. Die Leute hielten sich an die Tempel und Opferhöhen, an die Priester.
     Niemand blätterte und las in der Bibel, denn die gab es noch nicht. Der jüdische Glaube war, wie alle Religionen jener Zeit,
     eine kultische Religion. Fruchtbarkeit des Viehs, des Bodens und der Menschen, Geburt und Tod, Gesundheit, Wohlstand, kriegerische
     Unternehmungen, Sühne für Totschlag und Mord, Vertragsschlüsse, alles begleiteten die Priester des Tempels mit Riten, Waschungen,
     Opfern und Gebeten. Sie verwalteten das Orakel, brachten die Bitten einer unfruchtbaren Frau vor Gott, sie bannten die Aussätzigen
     und Leprakranken. Ohne Priester und Tempel gab es keine Weisung, keine Frömmigkeit, keine Religion.
    Erst nach dem Babylonischen Exil wurde Israel zum »Volk des Buches«. Über den Beginn dieses Prozesses finden wir einen sicheren
     Anhaltspunkt in der Bibel selbst. Aber dazu müssen wir uns noch einmal zurückversetzen in die Zeit des Exils. Esra, »der Schreiber«,
     trug damals zum ersten Mal öffentlich aus biblischen Schriften vor. In Babylon geboren, begegnet er uns als persischer Hochkommissar
     in Jerusalem. Sein Auftrag war, heimkehrwillige Juden zurück ins Gelobte Land zu begleiten. Der Schreiber führte Schriftrollen
     mit sich, in denen die »Tora der Weisung Moses« festgehalten war.
    Im Jahr 458 (oder 398, die Daten sind strittig) vor unserer Zeit versammelten sich die Bewohner von Stadt und Land, Ortsansässige
     und Heimkehrer auf dem Tempelplatz und forderten den Hochkommissar zu einer öffentlichen Verlesung der »Tora Moses« auf. So
     brachte Esra »das Gesetz vor die Gemeinde, vor die |99| Männer und Frauen und alle, die es verstehen konnten«. Das war die Geburtsstunde des Judentums als Buchreligion. Neben die
     Priester trat der Schreiber, neben die Altäre das Buch. Ein dramatischer Wechsel im religiösen Selbstverständnis.
    Immer schon waren Schreiberschulen dem Tempelbetrieb angegliedert gewesen. Schreiber hielten die Einkünfte der Priesterschaft
     fest, archivierten Verträge, fixierten das Ritual einzelner Festtage, sammelten jegliche Art von Schriftgut, führten Jahreschroniken.
     Doch dieses Schrifttum war nur für den internen |100| Gebrauch gedacht. Esra dagegen legte die Weisung, die Tora seines Gottes, in die Hände des Volkes. Er verlagerte die Religion
     aus dem Tempel hinaus in die Herzen der Menschen. Weder er, noch die Priester, noch die Volksversammlung

Weitere Kostenlose Bücher