Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
gebrochen,
die neben Jahwe noch andere Gottheiten verehrten und die Solidarität den »Fremden, Witwen und Waisen« |106| gegenüber vernachlässigten. Erst spät erreichte die Prophetenbotschaft also ihre Adressaten, die oberen Zehntausend. Im Exil,
das ihnen die Propheten angedroht hatten, zu einer Zeit, in der sie auf deren Weisung angewiesen waren.
Hosea sprach schon 200 Jahre zuvor Jahwes Worte: »Als Israel jung war, gewann ich es lieb: – Doch je mehr ich’s rief, um so
mehr wandte sich Israel ab. Sie opferten fremden Baals-Göttern und brachten geschnitzten Bildern Weihrauch dar, dabei war
ich es doch, der sie das Gehen lehrte, ich war es doch, der Israel in den Armen trug. – Darum müssen sie zurück nach Ägypten
und Assur wird ihr König sein. Sie weigern sich umzukehren, darum wird das Schwert in ihren Städten wüten, ihre Herrensitze
fressen.« Ebenso prophetisch Amos: »Wehe den Unbeschwerten da oben, der Spitzenklasse unter den Völkern:– die an kommendes
Unheil nicht glauben und Gewaltherrschaft heraufbeschwören, die sich auf Elfenbeinliegen räkeln, auf Polstern sich strecken,
nur das leckerste Fleisch verspeisen, vom Feinsten und Besten essen, die grölen zum Klang von Musik, sich mit Instrumenten
umgeben wie David, Wein aus Kannen in sich schütten, ihre Haut mit den teuersten Ölen pflegen: – sie werden als erste verbannt,
und vorbei ist es mit den Räkelgelagen!« Und schließlich Jesaja: »Mein Volk, deine Führer sind Verführer, um dein Leben betrügen
sie dich. – Er aber wird sie zur Rechenschaft ziehen, die hohen Herren, die oben in seinem Volk: Ihr! Mein Volk habt ihr kahl
gefressen, eure Häuser stecken voll Armenraub. Was fällt euch ein, mein Volk zu schinden, ins Gesicht die Unterdrückten zu
schlagen!«
Wir haben nicht die geringste Ahnung, wer die Prophetenworte ursprünglich sammelte, weitergab, aufschrieb, oder wie sie ihren
Weg nach Babylonien fanden. Wie auch immer, sie öffneten den Vertriebenen die Augen.
»Ki chateu bene Yisrael«, weil Israel sündigte, darum hatte sie das Unheil ereilt! Trotz der rauchenden, wohl versorgten Altäre,
trotz aller Sühneopfer, trotz des funktionierenden Kultbetriebs. »Ki chateu bene Yisrael«, weil Israel sündigte, darum hatten
Jerusalems Mauern nicht standgehalten. »Ki chateu bene Yisrael«, weil Israel sündigte, darum hatte Jahwe sein Heiligtum aufgegeben.
Dafür büßten sie jetzt, die Israeliten. Sie saßen an den Flüssen Babylons und weinten.
Es war wohl ein Akt der Umkehr, alles, was an Überlieferungen aus Jerusalem ins rettende Exil gelangte, zu sammeln, zu sichten
und fortzuführen. Und das taten die Schreiber, Leute wie Esra. Sie aktualisierten das alte Material, indem sie Neues hinzufügten,
die Texte erweiterten und kommentierten. Immer mit dem Gedanken: Was lehrt uns die Geschichte?
So sind die Schriften der Bibel zu uns gekommen. Nicht in ihrem ursprünglichen |107| Zustand, da behielt Spinoza Recht, sondern von vielen Händen immerzu aufs Neue überarbeitet. Vor dem Exil lebte Israel ohne
die Heilige Schrift. Der Kern der Hebräischen Bibel stammt erst aus Babylon. Esra jedoch, und hier irrte der Philosoph aus
Amsterdam, scheidet als alleiniger Verfasser und Bearbeiter aus. Wir haben es mit einer Vielzahl von Autoren, Sammlern und
Redakteuren zu tun, und die haben zu verschiedenen Zeiten teils abhängig, teils unabhängig voneinander gearbeitet. Sie haben
uns die Geschichten von Abraham und Sarah erhalten, wieder andere fügten die Erzählungen von Jakob und seinen Söhnen aus der
Überlieferung hinzu. Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern ist dagegen eine Novelle, wahrscheinlich von einem einzigen
Verfasser. Das Werk eines Literaten also, kein Wunder, dass sich Thomas Mann in die Geschichte verliebte und selbst einen
Roman darüber schrieb!
Wie haben wir uns die Arbeit der Archivare, Sammler, Erzähler und Redakteure vorzustellen? Waren sie organisiert? Das ist
anzunehmen, lässt sich aber nirgends festmachen. Einige Hinweise liefert das Psalmenbuch der Bibel. Es umfasst 150 Lieder
und Hymnen für den Tempelgebrauch und enthält zum Teil archaisches, dann wieder viel jüngeres Überlieferungsgut. Die Zuweisung
einer so beträchtlichen Zahl von Dichtungen an David entspringt jedoch dem Wunschdenken der Redakteure, ebenso wie Psalm 90,
den sie ihren Lesern als das Gebet des Moses vorstellen. Der 90. Psalm ist ein Menschheitsdokument, das die
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