Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Gott geplagt und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer
Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden wurde uns Heil.« Aus
dem Leid der Juden wird das Leid der Auserwählten, die dies stellvertretend für die Welt tragen. Israel ist nicht verworfen.
Gott hat es unter die Völker geworfen, auf dass es zum Licht der Völker werde. Die Umkehrung aller Verhältnisse, das ist die
Botschaft des neuen Propheten an den Flüssen Babylons. Israels Exil wird zum Segen der Menschheit.
»Macht euch die Erde untertan«
Das jüdische Weltverständnis hat die gesamte Weltkultur geprägt. Ich schlage die Bibel auf, beginne mit der ersten Zeile und
lese auf Hebräisch von rechts nach links: »Bereschit bara elohim«, am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde! Ähnlich heißt
es in einem Lied, das meine Schülerinnen und Schüler gerne sangen: »Laudato si, o mi signore, laudato si« und weiter auf Deutsch: |114| »Sei gepriesen, du hast die Welt erschaffen, sei gepriesen für Sonne, Mond und Sterne, sei gepriesen für Meer und Kontinente,
sei gepriesen, denn du bist wunderbar.« Diese Worte stammen aus dem »Sonnengesang« des Franz von Assisi im Jahr 1225.
Das erste Kapitel der Bibel erzählt die Entstehung von Himmel und Erde bis zur Erschaffung der Menschheit in einem beinahe
evolutionär anmutenden Sechstagewerk. Danach beginnt der Schöpfungssabbat: »Gott vollendete am siebten Tag sein Werk, das
er verrichtet hatte, und ruhte am siebten Tag von all seinem Werk, das er vollbracht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag
und heiligte ihn. Denn an ihm hat er von all seinem Werke geruht, das Gott wirkend schuf. Dies ist der Werdegang des Himmels
und der Erde, als sie geschaffen wurden.«
Diese Schöpfungsgeschichte ist einmalig und unwiederholbar. Als Gegenstück steht mir die indische Weltzeitenlehre vor Augen.
Die Jaina-Mathematiker rechneten mit aufeinander folgenden Weltperioden von jeweils 311040000000000 Jahren, unvorstellbare
Zeiträume, die nicht einmal Astrophysiker erreichen. Der spätere Buddhismus operierte mit ähnlichen Zahlenwelten. Faszinierende
Zahlengebirge, die der Philosoph Immanuel Kant als »schauderhaft« empfand. Sicher kein gerechtes Urteil. Um mit derartigen
Zahlen überhaupt rechnen zu können, schufen die Inder immerhin unser heutiges Stellenwertsystem. Es erreichte Europa durch
die Vermittlung muslimischer Mathematiker: Mathematische Operationen wurden damit zum Kinderspiel, ein wahrhaft revolutionärer
Umbruch!
Wie klein und einfach nimmt sich dagegen das Sechstagewerk der Bibel aus! Die sprachlich vorgegebene Obergrenze für Zahlenwerte
liegt in der Hebräischen Bibel bei 100 000, das ist auch in zeitgleichen Texten der Griechen nicht viel anders. Französische
Mathematiker erfinden erst im 17. Jahrhundert die »Million«, und seit dem 19. Jahrhundert kommt in Deutschland das Wort »Milliarde«
in Gebrauch. Seit endlosen Zeiten rechnen die Inder jedoch schon mit Zahlenwerten, die Trillionen und Abertrillionen umfassen.
Die Welt ist überwältigend, das ist die Botschaft indischer Zahlenphilosophie. Erinnern wir uns, dass Buddha sagte: »Wenig
ist das Wasser der vier Weltmeere im Vergleich zu den Tränen, die ihr während eurer Weltenwanderung vergossen habt.« Ohne
äußerste Anstrengung kann es nicht gelingen, dem äonenschweren Samsara zu entkommen.
Die Schilderung des Schöpfungsprozesses in der Hebräischen Bibel zeichnet eine vergleichsweise winzige, aber überschaubare
Welt. Sie ist in sechs Tagen |115| aus dem Nichts entstanden. Eine Welt, eingerichtet zum praktischen Gebrauch nach menschlichen Maßen.
Sie entstand genau vor 5 750 Jahren. Das errechnete das Rabbinat beim Wechsel in unser 3. Jahrtausend. Indische, buddhistische,
chinesische Kalender kennen keinen Startpunkt der historischen Jahreszahlen. Dort ist die Zeit im ewigen Fluss, ohne Anfang
und ohne Ende. Erst sehr viel später übernahm die östliche Welt das Schema der westlichen Zeitrechung. Diese ist ins jüdische
Zeitverständnis eingebettet, das sich in dem Sechstagewerk niederschlägt. Kein Kreislauf der Geburten tut sich auf. Die Schöpfung
ist Gnade, Gottes Wohltat. Denn es war »alles sehr gut«, wie es am Ende des Schöpfungskapitels heißt.
In der gut erschaffenen Welt muss der Mensch sein Heil finden. Die Menschheitsgeschichte ist eine Heilsgeschichte. Und
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