Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
religiös Verarmten, Enteigneten und Deklassierten, kurz: das religiöse Proletariat.
In dieser Zeit funktioniert der religiöse Apparat Israels tatsächlich wie ein kapitalistisches System: Die Frommen werden
immer frömmer, und die religiösen Habenichtse verarmen immer mehr! Der Kultbetrieb funktioniert reibungslos, am Pessach-Fest
waten die Priester knöcheltief im Opferblut. Die oberen Zehntausend lassen Teppiche vor sich ausrollen, wenn sie das Heiligtum
besuchen. Ehe er den schmutzig-blutigen Altardienst versieht, streift sich der Hohepriester seidene Handschuhe über. Die Frommen
Israels, die Pharisäer, machen Gewinn mit ihren Verdiensten um die Tora. Alle häufen religiöses |145| Kapital auf, das Volk aber geht leer aus. Seiner nimmt sich keiner an. Nicht die arroganten oberen Zehntausend, nicht die
Pharisäer, die dem Volk fluchen, das die Tora nicht achtet. Auch die Überlieferung des Talmud spart rückblickend nicht mit
Kritik an der Frömmigkeit jener Tage: Als die Römer den Tempel in Flammen aufgehen ließen, »verbrannten sie ein Gebäude, das
ohnehin nur noch Asche war.« Ein vernichtendes Urteil!
Zu den religiös Deklassierten, den »geistlich Armen«, fühlt sich Jesus hingezogen. Die vom offiziellen Religionsbetrieb Aussortierten
sind seine Adressaten, die »verlorenen Schafe Israels«, wie es bei ihm immer wieder heißt. Die religiöse Elite interessiert
sich nicht für das spirituelle Vakuum, das sie selbst geschaffen hat. Sie existiert nur noch für sich selbst. Der Zimmermannssohn
springt für die Religionsbeamten ein, er übernimmt das verwaiste Hirtenamt: »Was meint ihr? Wenn ein Mensch 100 Schafe hat
und es verläuft sich eins davon, wird er nicht die 99 auf den Bergen lassen, und er macht sich auf und sucht das vermisste?
Und wenn er es glücklich findet, denkt ihr nicht, er wird sich mehr daran freuen als an den 99 anderen? Ich sage euch, es
ist der Wille eures Vaters in den Himmeln, dass ihm nicht eins dieser Kleinen verloren gehe!« So wird Jesus zum Guten Hirten.
Die »verlorenen Schafe«, das sind konkret die Steuereintreiber. Sie werden religiös diskriminiert, weil sie zwangsläufig mit
den kultisch Unreinen, den Gojim der Besatzungsmacht in Berührung kommen. Sogar der Schatten eines Zöllners kann einen Frommen
beschmutzen. Stellvertretend für alle anderen religiös verachteten Berufe sind die »Hirten des Feldes« aussortierte, unreine
Leute. Ebenso die als religiös minderwertig etikettierten Frauen, die Prostituierten voran, die Behinderten, Leprösen, Bettelarmen,
kurzum alle, die sich den Luxus eines religiösen Lebens nach den 613 Geboten der Tora nicht leisten können. Sie und alle anderen
religiös Deklassierten sind die Zielgruppe der Botschaft von Jesus. Ständig tauchen ihre Repräsentanten in seinen Reden auf,
zum Beispiel in den Gleichnissen.
»Zwei Männer gehen zum Beten hinauf in den Tempel. Einer gehört zur Gesetzespartei, der andere ist Steuereintreiber, ein Unberührbarer.
Der erste stellt sich hin und betet: Gott, gut, dass ich nicht bin wie andere Leute, die stehlen, Unrecht tun, ehebrecherisch
leben, und dass ich nicht so bin, wie dieser Steuereintreiber da. Ich faste zweimal in der Woche, ich gebe den Zehnten meiner
Einnahmen als Spende! Der Steuereintreiber aber bleibt weit weg stehen. Er traut sich nicht die Augen aufzuheben, schlägt
die Hände vors Gesicht und sagt: O Gott, habe Mitleid mit mir, ich bin so fern von dir! Beide |146| kommen aus dem Tempel«, schließt Jesus, »doch ich sage euch, anders als der andere wird der Unberührbare Gott gerecht.«
Ein zweites klassisches Gleichnis, mit dem Jesus seine Parteinahme für die »geistlich Armen« verteidigt, erzählt von einem
verlorenen Sohn: »Ein Mann hat zwei Söhne. Der jüngere sagt ihm: Ich will meine Abfindung, den Teil meiner Erbschaft! Da teilt
der Vater den Besitz zwischen beiden auf. Kurz darauf macht der jüngere alles zu Geld, geht ins Ausland und verjubelt es.
Da kommt eine Hungersnot ins Land, und der Junge hat nichts mehr zu essen. Jetzt geht es ihm schlecht. Er macht sich an einen
Einheimischen heran, der schickt ihn zu seinen Schweinen aufs Feld, die soll er hüten. Der Junge hätte gern was von ihrem
Fressen abgehabt, doch selbst davon bekommt er nichts. Da kommt er zu sich und sagt: Die Arbeiter von meinem Vater haben mehr
Brot als sie brauchen, und ich sitze hier, und mich bringt der Hunger um. Ich will weg, zu
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