Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
der Geburt von Jesus und seinen Geschwistern
anders, völlig anders aus. Damals war die Zahl der Juden auf eine nahezu schwindelnde Höhe emporgeschnellt, wie nie mehr danach
in ihrer Geschichte. Der römische Kaiser Claudius gab ihre Zahl mit 6944000 an, einem Zehntel der Gesamtbevölkerung des Römischen
Reiches. Nein, Jesus war nicht verheiratet. Doch vielleicht hätte er später eine Frau gesucht? Er war ja noch jung und bis
dahin zu sehr von familiären Pflichten in Anspruch genommen. Das sind reine Mutmaßungen, gewiss. Tatsache aber ist, und das
hebt auch Ben Chorin hervor, dass der Zimmermannssohn ausgesprochen »pro-feministisch« war. Darauf will ich später eingehen.
Jesus ließ keine Frau und Kinder zurück, als er sich auf die Wanderschaft begab. Können wir der Überlieferung trauen? Versuchten
Mutter und Geschwister |141| wirklich, ihn daran zu hindern, wollten sie ihn sogar gewaltsam zurückholen? »Sie sagten nämlich: Er ist nicht ganz bei Sinnen!«,
und erklärten den jungen Mann für geistesgestört.
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Christus, wie ihn Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle schuf.
|141| Seinem Bruder Jakobus begegnen wir später als Gemeindeleiter in Jerusalem: ein durch und durch der Tora ergebener Mann, der,
wie schon erzählt, sich im Tempel Schwielen an den Knien betete. Irgendwann soll er sogar den Märtyrertod erlitten haben,
was aber sehr wahrscheinlich in den Bereich der Legenden gehört. Als Paulus im Jahr 54 seinen Brief an die Korinther schrieb,
lebte der Jesusbruder jedenfalls noch. Paulus zählt Jakobus aus Nazareth unter denen auf, die zu den ersten Zeugen der Auferstehung
wurden. Demnach gehörte Jakobus von Anfang an zu den ersten Anhängern von Jesus, und nach dessen Kreuzigung wurde ihm darum
die Gemeindeleitung übertragen. In dieser Funktion wirkte Jakobus unbehelligt zwei Jahrzehnte lang. Ein Jude, der sich in
nichts von den übrigen Juden unterschied, es sei denn durch seinen besonderen Gesetzeseifer.
Ich sehe Jakobus als einen Mann von eher konservativem Zuschnitt vor mir, die Jerusalemer Christengemeinde als einen etwas
schlafmützigen Verein, ängstlich darauf bedacht, kein öffentliches Ärgernis zu erregen, mit den Religionsbehörden friedlich
auszukommen. Neben Jakobus aus Nazareth erscheinen, wieder nach Ausweis von Paulus, noch andere leibliche Jesusbrüder in Leitungsfunktionen
der ersten Gemeinde. Sie waren verheiratet und sind irgendwann aus Nazareth in die Hauptstadt übergesiedelt.
So weit die Tatsachen, nun die Fragen. Wie haben die leiblichen Geschwister von Jesus seine Botschaft verstanden, wenn sie
aus seiner Gemeinde ein Familienunternehmen machten? Und aufgrund welcher Qualifikationen hat man ihnen Leitungsfunktionen
zugestanden? Waren seine Geschwister etwa auch Augen- und Ohrenzeugen der Taten und Werke ihres Bruders? Während der Zeit
seines öffentlichen Auftretens? Die Evangelien berichten darüber nichts. Im Gegenteil: Es heißt immer, dass seine eigene Familie
sich dem Buß und Wanderprediger gegenüber äußerst reserviert verhalten habe. »Auch seine Brüder glaubten nicht an ihn«, lesen
wir bei Johannes. In Jerusalem treffen wir sie plötzlich wieder, als Familienclan! Da bleibt nur der Schluss, dass es die
leibliche Verwandtschaft mit Jesus war, die Jakobus und seine Brüder ins Amt brachte. Religiöse Vetternwirtschaft.
|142| Der Mann, der aus der Wüste kam
Nach Auskunft der drei ersten Evangelisten betrug die Zeit der öffentlichen Wirksamkeit von Jesus gerade mal ein einziges
Jahr. Nur Johannes rechnet mit drei Jahren. Was sind ein, zwei Jahre in der Weltgeschichte? Wie konnte ein einzelner Mensch
in so kurzer Zeit die Welt aus den Angeln hebeln? Was war an seiner Botschaft so umwerfend, dass sie die Menschen derart elektrisierte?
Wie erklärt sich ihre spontane Breitenwirkung? »Er lehrte sie wie einer, der authentisch redet, und nicht wie ihre Schriftgelehrten«,
heißt es bei Markus. Was soll man sich darunter konkret vorstellen? Was versetzte die Religionsbehörden daran so in Panik,
dass sie kurzerhand mit den schärfsten Maßnahmen reagierten? Ich bezweifele, ob wir jemals völlig schlüssige Antworten finden
werden. Dazu ist die Jesus-Überlieferung durch zu viele Hände gegangen. Was ihre erdbebenartige Wirkung ausmachte, können
wir bestenfalls annähernd rekonstruieren.
Immerhin, ich will es versuchen. Ich sehe einen jungen Mann seine Familie verlassen, der das Gefühl hat,
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