Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
dass eine große Wende
bevorsteht. Etwas liegt in der Luft, doch was es ist, kann er selbst noch nicht recht sagen. Nur ein Gefühl ist es. Zu bedrängend,
als dass er es abweisen könnte. Er stammt aus einer frommen Familie, die ihn vielleicht nicht ziehen lassen wollte. Denn alle
in Galiläa wissen, wie drohend die Zeitläufe sind. Wanderprediger durcheilen das Land, verkünden apokalyptische Zeichen.
Ein paar Tagesmärsche östlich, in der Jordansenke, taucht ein Prophet auf. Johannes der Täufer (nicht zu verwechseln mit Johannes
dem Evangelisten), begleitet von seinen Schülern. Das Volk drängt zu ihm. Menschen, die spüren, dass etwas Bedrohliches unterwegs
ist. Wenn es eintrifft, wird nichts mehr so sein wie früher. »Macht euch aufs Schlimmste gefasst!«, ruft Johannes ihnen zu.
Sogar aus Jerusalem sind sie die Berge hinabgestiegen, um den Propheten zu sehen. Bekleidet mit einer Kamelhaut. Heuschrecken
und wilder Honig sind seine Nahrung, so erzählt man sich. Nomadenkost. Muss Israel zurück in die Wüste? Zurück, um in der
Wüste wandernd zu büßen? Wie zu Moses Zeiten?
»Bildet euch bloß nichts ein!«, ruft der Wüstenmann ihnen zu. »Bildet euch bloß nichts ein! Ihr sagt, wir haben den Tempel,
der Tempel Jahwes ist hier. Ihr sagt, was kann uns schon geschehen, sind wir nicht Abrahams Same? Ich sage euch, der Ewige
ist auf euch nicht angewiesen! Aus den Steinen hier könnte er sich Kinder wecken! Geht in euch!« Und die Leute fragen: »Was
sollen wir denn tun?« »Bringt euer Herz zusammen, schwört aller Halbherzigkeit ab, |143| kehrt um, beginnt geschwisterlich zu leben!«, antwortet der Täufer. »Und wem es ernst ist, der tauche jetzt in den Fluss,
dass er als neuer Mensch auferstehe! Folgt dem Beispiel unserer Väter! Die aus der Wüste kamen, durch den Jordan schritten,
um reinen Herzens im Land zu wohnen!« So, oder so ähnlich, stelle ich mir die Bußpredigt von Johannes dem Täufer vor.
Unter denen, die durchs Wasser zu neuem Leben finden und sich von Johannes taufen lassen, ist auch Jesus von Nazareth.
Die Taufe, so berichten die Evangelien, wurde zum Wendepunkt in seinem Leben. Hat Jesus in diesem exstatischen Augenblick
den »Himmel über sich offen gesehen«, wie es später heißt? Ist der Geist über ihn gekommen, dass es den Zimmermannssohn hinaus
in die Wüste trieb? »Und er wurde in der Wüste vom Satan versucht, und er lebte unter den Tieren, und die Engel dienten ihm«,
schreibt Markus.
Ich fühle mich an den alten Bericht über den Propheten Elia erinnert, auf dessen Wiederkehr Israel damals hoffte. Auch den
hatte es in einer elementaren Krise hinaus in die Wüste gezogen:
Johannes der Täufer.
|144| »Da wanderte Elia vierzig Tage und vierzig Nächte bis an den Gottesberg Horeb. Dort zog er sich in eine Höhle zurück, um da
die Nacht zu verbringen. – Und siehe, es ging Jahwe vorbei, ein großer starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen
zerbrach, kam vor ihm her. Aber Jahwe war nicht in dem Wind. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben. Aber Jahwe war nicht in
dem Erdbeben. Nach dem Erdbeben kam ein Feuer. Aber Jahwe war nicht in dem Feuer. Nach dem Feuer kam Stille, wie ein Wispern.
Als Elia das hörte, schlug er den Mantel vors Gesicht und trat in den Eingang der Höhle. Und siehe, da kam eine Stimme zu
ihm: Was tust du hier, Elia?«
In der Wüste findet Elia seinen Auftrag. Jahwe schickt ihn gegen das Königtum von Israels Nordreich. Der Prophet wird dem
König den Untergang ankündigen. In der Wüste erfährt auch Jesus von Nazaret seine Berufung.
»Selig sind die geistlich Armen«
Der Auftrag, mit dem Jesus die Wüste verlässt und an die Öffentlichkeit tritt, ist in dem programmatischen Satz enthalten:
»Selig sind die geistlich Armen, denn das Königreich der Himmel kommt zu ihnen!«
Dieses Wort bildet den Auftakt zur Bergpredigt. Den Verdammten der Erde spricht sie Gottes Verheißung zu: »Selig sind die
Trauernden, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanften, denn sie sollen das Erdreich besitzen. Selig, die hungern
und dürsten, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt, denn sie sollen gesättigt werden. Selig sind, die reinen Herzens sind, denn
sie sollen Gott schauen. Selig sind, die Frieden stiften, denn sie sollen Gottes Töchter und Söhne sein.«
Wichtig ist, die Adressaten der Botschaft vor sich zu sehen. Wer sind jene »geistlich Armen«, an die Jesus sich wendet? Es
sind die
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