Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Stammvater Israels heranwuchs. Aber es kam noch schlimmer:
Muhammad behauptete, bereits Adam habe den Grundstein für eine Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg gelegt, und beanspruchte
damit für seine neue Religion das Heimatrecht im Gelobten Land! 70 Jahre darauf entstand tatsächlich auf dem Tempelberg der
Felsendom, nachdem der Platz ein halbes Jahrtausend öde, verwahrlost dagelegen hatte und nur noch Trümmer an die Herrlichkeit
des jüdischen Tempels erinnerten, stumme Zeugen der Niederlage Israels im Römischen Krieg. Nein, die Juden mussten Allahs
Gesandten widerstehen, wollten sie sich nicht selbst aufgeben. War Muhammad doch drauf und dran, Moses Volk das Gelobte Land,
den Juden ihre Heils- und Leidensgeschichte streitig zu machen.
Der Muezzin singt die Aufforderung zum Gebet: die berühmte Al-Aqsa Moschee.
|178| Das alles passierte ihnen nun schon zum zweiten Mal. Vorher hatten die Christen bereits die Tora entwendet, die Hebräische
Bibel. Und wie die Muslime hatte sich die Christenkirche zum wahren Gottesvolk erklärt! Das alles wollten die Juden nicht
noch einmal erleben.
Die Atmosphäre zwischen Muslimen und Juden in Medina war aufgeladen wie vor einem Gewitter: »Als wir in der Moschee waren,
kam Allahs Gesandter aus seinem Haus zu uns und sagte: ›Lasst uns zu den Juden gehen!‹ So gingen wir mit ihm, bis wir Beit-al-Midras
erreicht hatten (den Platz, wo die Juden sich trafen und aus der Tora rezitierten). Und der Prophet sprach sie an und sagte:
›Ihr Juden, ergebt euch dem Islam, dann wird euch nichts geschehen!‹ Die Juden sagten: ›Wir haben dich gehört, Herr, du hast
uns Allahs Botschaft ausgerichtet!‹ Der Prophet sagte: ›Mehr verlange ich nicht von euch!‹ Und wiederholte seine Worte ein
zweites Mal. Und sie sagten: ›Wir haben dich gehört, Herr, du hast uns Allahs Botschaft ausgerichtet!‹ Der Gesandte wiederholte
seine Worte ein drittes Mal und fügte hinzu: ›Ihr sollt wissen, die Erde gehört Allah und seinem Gesandten. Ich werde euch
ausweisen aus der Stadt. Wer darin Eigentum hat, mag es veräußern. Doch ihr sollt wissen, die Erde gehört Allah und seinem
Gesandten!‹«
Nicht lange darauf verließen zwei jüdische Stämme Medina. Die letzte Gruppe belagerte Muhammad in ihren Hausburgen. Er beschuldigte
sie der Komplizenschaft mit den Mekkanern, die gegen ihn zu Felde gezogen waren. Gerade nur eine Hand voll Juden überlebte.
Auf inhaltliche Auseinandersetzungen mit ihnen ließ sich der Gesandte nicht mehr ein. Seinen Anhängern riet er, wegzuhören,
wenn die Juden ihre Tora den Muslimen erklären wollten. |179| »Sagt: Wir glauben an Allah und was er uns offenbarte!« Später unterstellte er den Juden, sie hätten ihre Schriften manipuliert,
damit sie nicht länger dem Koran entsprachen. Und schließlich hängte Muhammad noch eine weitere Theorie an: Die Tora sei infolge
der Strafen, die Allah über die ungläubigen Juden verhängte, nur noch unvollkommen überliefert worden.
Der Gesprächsfaden zwischen beiden Religionen war zerschnitten. Bemerkenswert bleibt, dass sich die Juden im späteren islamischen
Weltreich gelegentlich Freiheiten erlauben konnten, die im christlichen Abendland schlicht undenkbar gewesen wären. Oder gab
es einen christlichen Staat, der irgendwann einen Juden zum Oberbefehlshaber seiner Truppen ernannt hätte? So trug es sich
im muslimischen Spanien zu. Samuel ibn Nagrela führte im Jahr 1038 als Großwesir Granadas muslimische Truppen in die Schlacht
von Alfuenges und erstritt einen glänzenden Sieg. Nebenbei tat sich Samuel als Literat und scharfsinniger Debattenredner im
islamisch-jüdischen Dialog hervor. Gewiss, solche Beispiele liberaler Religionspolitik kamen nicht häufig vor. Sie beweisen
aber, dass unter muslimischer Herrschaft ein großer Ermessensspielraum in der Auslegung von Minderheitenrechten existierte.
Davon profitierten Juden wie Christen. Diese Auslegungsfreiheit war vom Koran selbst vorgegeben. An einer Stelle in den Suren
aus Medina heißt es eindeutig: »In der Religion soll kein Zwang sein.« Und daran hielten sich die arabischen Eroberer – vor
allem in den frühen Jahren.
Zurück nach Medina. Muhammad hatte über die Juden triumphiert. Was für ein Sieg! Ein Sieg, den Allah ihm und den Gläubigen
verliehen hatte, so sah es der Prophet. Die zehn Jahre in Medina brachten ihm Triumph auf Triumph. Gewiss, er hatte zwischendurch
auch Niederlagen
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