Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
folgende Geschichte: Als der
Prophet einmal im Himmel |173| wandelte, traf er den Moses. Der fragte ihn: »Was hat Allah deiner Gemeinde verordnet?« Er sagte: »Fünfzig Gebete!« Moses
sagte: »Kehre zu deinem Herrn zurück und bitte ihn um Erleichterung, deine Gemeinde wird das nicht einhalten können. Ich hatte
schon die Kinder Israel einer solchen Prüfung ausgesetzt, es ist zu viel!« Muhammad kehrte zu seinem Herrn zurück und sagte:
»O Herr, erleichtere es deiner Gemeinde!« Da erließ er ihm fünf Gebete. Moses aber sagte: »Auch das wird deine Gemeinde nicht
einhalten können, gehe zurück und bitte deinen Herrn um weitere Erleichterung!« Muhammad hörte nicht auf, zwischen Allah und
Moses hin und her zu gehen, bis Allah sagte: »Es sind fünf Gebete am Tag!« Moses sagte: »Auch das wird deine Gemeinde nicht
einhalten können!« Muhammad aber sagte: »Ich schäme mich, um noch weniger zu bitten!«
Die muslimische Gemeinde ist eine betende Gemeinschaft. Wann und wo immer ein Gläubiger sein Pflichtgebet erstattet, umgibt
ihn unsichtbar die Schar der Gläubigen aller Himmelsrichtungen. Muhammad selbst war ein großer Beter. Wo er auch war, das
Gebet verließ ihn nicht. »Der Prophet pflegte auch auf seinem Reittier zu beten, welche Richtung es auch einschlug. Doch sobald
er sein Pflichtgebet verrichten wollte, stieg er ab und wandte sich zur Kibla.« Die Gebetsrichtung, Kibla, orientierte sich
seit den Anfängen der Gemeinde an Jerusalem. Sechzehn, siebzehn Monate nach der Hidschra änderte der Prophet sie um 180 Grad.
Die Gläubigen wandten sich nun der Kaaba zu. So blieb es |174| bis heute. Im Hintergrund standen damals die Auseinandersetzungen mit den Juden Medinas. Doch davon später.
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Medina brachte die Wende für den Propheten.
|174| Der muslimische Gottesdienst ist schlicht, ein reiner Wortgottesdienst. Die Christen würden darin ihre Gemeindelieder vermissen.
Muhammad wollte die Andacht von allem freihalten, was vom Wort ablenken konnte: Keine Bilder schmücken die Moschee, keine
Gesänge unterbrechen den Gebetsdienst.
Überhaupt war der Gesandte der Musik nicht wohlgesonnen: »Irgendwann wird es unter meinen Nachfolgern Leute geben, die ungezügeltes
sexuelles Begehren, das Tragen von seidenen Gewändern, Trinken von Alkohol und Instrumentalmusik für erlaubt halten.« Die
strenge Atmosphäre der Wüsteneinsamkeit lebt weiter in Muhammads Gebetsritual: Gott und die Seele, sonst nichts! Die Enthaltung
von Bild und Musik kompensierte der Islam in einer gleichsam transzendentalen Architektur und in einer Schriftkunst, die den
Betrachter mit Andacht erfüllt. Allah darf nichts an die Seite gestellt werden, damit seine unbedingte Einzigartigkeit gewahrt
bleibt. Auch das muslimische Paradies kennt keine Musik. Paulus erwartete dort einen alle Begriffe übersteigenden Zustand:
»Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was auch in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott denen bereitet,
die ihn lieben«, und dazu gehörte nach Meinung der Kirchenväter auch die Musik. Ganz anders im Islam. Hier werden tiefgreifende
Unterschiede in der Gottesvorstellung beider Religionen sichtbar.
Freilich, Muhammads ablehnende Einstellung zur Musik hat der Islam nie ganz und überall durchgehalten. Vom Gottesdienst blieb
die Musik allerdings bis heute strikt ausgeschlossen. Doch sie blühte an den Höfen und im Volkstum, kunstvoll und ornamentreich,
durchwoben von rhythmischen »Arabesken«. Europa verdankt den Arabern viele seiner Musikinstrumente: Laute, die Qitara, unsere
Gitarre, Streichinstrumente, Blasinstrumente wie Querflöte und Schalmei. Nicht zu vergessen die spanischen Kastagnetten! Arabische
Musikologen galten im Abendland lange als die führenden Musikwissenschaftler schlechthin.
Einfach und überschaubar waren die ersten religiösen Pflichten, die Muhammad seinen Anhängern auferlegte: an die Einzigartigkeit
Allahs glauben, ihn um Vergebung bitten, den Gebetspflichten nachkommen, den Notleidenden helfen, keinen Reichtümern nachstreben.
Eine klare, eindeutige Botschaft. Doch in Medina häuften sich vor dem Propheten zahllose neue Probleme auf, die der Weisung
des Korans bedurften. Daraus entstand als Auslegung des Korans die Scharia, das religiöse Gesetz des Islam.
|175| Sogar die Scharia war halbwegs gelinde, vergleicht man sie mit den Rechtsordnungen anderer Kulturen, zum Beispiel mit der
»Gerichtsordnung Karls V.«
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