Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
hatte der Prophet seine Eingebungen bisher verstanden. Auf seinen Reisen musste Muhammad der Modernisierungsbedarf
seiner arabischen Stammesbrüder gegenüber den umliegenden Nationen bewusst geworden sein. Die Söhne Ismaels wollten den Nachbarländern
nicht länger hinterherhinken. Das gab seiner Mission den zusätzlichen Antrieb. Deshalb orientierte sich Muhammad zunächst
an den beiden Großreligionen der nördlichen und westlichen Zivilisationen, dem Juden- und Christentum.
Und er hatte Geduld, viel Geduld mit seinen Landsleuten. Immerhin fast ein ganzes Jahrzehnt predigte er in Mekka und leistete
Überzeugungsarbeit, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Der große Durchbruch wollte sich einfach nicht einstellen. Die Mekkaner
gewöhnten sich im Lauf der Jahre wahrscheinlich so an den Sonderling, dass sie ihn schließlich kaum noch wahrnahmen.
Kritisch wurde die Situation, als seine einflussreiche Gattin Kadisha starb und auch der Onkel Abu Talib, der stets eine schützende
Hand über Muhammad und seine kleine Schar gehalten hatte. Mit ihm hatten sich die Mekkaner nicht anlegen wollen, Abu Talib
war ein mächtiger Mann gewesen. Aber den gab es plötzlich nicht mehr, und Muhammad konnte keinen anderen einflussreichen Gönner
für sich gewinnen. Jetzt wollten die Mekkaner den lästigen Straßenprediger loswerden. Der Druck wuchs, die Gläubigen fürchteten
um das Leben des Gesandten, ein Mordkomplott gegen Muhammad schien nicht ausgeschlossen.
Ausgerechnet unter diesen schwierigen Umständen ging Muhammad eine neue Ehe ein. Er heiratete die nicht einmal zehnjährige
Aisha, das schöne Töchterchen seines Freundes Abu Bakr. »Humayra«, meine »Rote«, nannte sie Muhammad zärtlich. Keine Kinderheirat,
sondern, wie damals üblich, eine vorgezogene Eheschließung, eine Verlobung, wie wir es heute nennen würden. Aisha schilderte
ihre ersten Ehejahre in Medina, um diese Zeit war sie 14: »Meine Freundinnen und ich spielten Puppen. Und wenn der Prophet
kam, rannten sie aus dem Haus. Er lief ihnen nach und brachte sie zurück, denn er hatte es gern, wenn sie um mich waren.«
Aber ich will den Ereignissen nicht vorausgreifen.
|172| Hidschra, die Flucht nach Medina
Der Engel Gabriel, so wird erzählt, warnte Muhammad vor dem drohenden Mordanschlag und befahl ihm, alsbald die Stadt zu verlassen.
Aisha war zwölf, als die Muslime mit ihrem Propheten nach Medina, acht bis zehn Tagereisen nördlich von Mekka gelegen, übersiedelten.
Die Stämme Medinas waren zerstritten und suchten einen Schlichter. Sie luden Muhammad ein, sich bei ihnen niederzulassen,
damit die Streitereien ein Ende nahmen. Mit dem Fluchtjahr 622 (nach westlichem Kalender), der Hidschra, beginnt die muslimische
Zeitrechnung. Nach ihr leben wir heute im 14. Jahrhundert.
Medina brachte die Wende für den Propheten. Die letzte Dekade seines Lebens wurde zur beispiellosen Erfolgsgeschichte. Keiner
der Mediner zweifelte seine Autorität an, die Bewohner bekehrten sich zum Islam. Und die Neubekehrten beteiligten ihre Glaubensbrüder,
die Flüchtlinge aus Mekka, großzügig am Handel und Wandel ihrer Stadt.
Medina, der erste muslimische Gottesstaat
Hier in Medina bildete sich die erste umfassende Gemeindeordnung. Von der Rechtsprechung bis zur Andacht prägt sie bis heute
das Miteinander der Muslime. Das erste Gotteshaus entstand. Kein Prachtgebäude, ein einfacher Bau um einen ungepflasterten
Hof, den eine Lehmmauer umgab. An einer Seite Hütten aus Palmzweigen, mit lehmgetränkten Palmblättern bedacht, die Bleibe
für Muhammads Frauen. Wenn es mal regnete, wurde es drinnen nass! Der Prophet lehrte an einen Baumstamm gelehnt. Als man ihm
später eine Kanzel schreinerte, sehnte sich der Baum nach dem Gesandten und rief nach Muhammad, sagt die Legende. »Da ging
er zu ihm und streichelte ihn.« Noch gab es keine feste Regelung der Gebetszeiten. Die einen kamen zu früh, andere verspäteten
sich. Wie sollte man diesem Missstand abhelfen? »Einige rieten, zu diesem Zweck eine Glocke zu benutzen, wie es die Christen
taten, andere schlugen ein Blashorn vor, wie es die Juden verwenden. Umar aber sagte: Geht es nicht, dass ihr einen Mann herausschickt,
der zum Gebet ruft? Da sagte der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil sei auf ihm: O Bihal, steh auf und rufe zum Gebet!«
Der erste Muezzin trat sein Amt an.
Die Zahl der täglichen Gebetszeiten setzte Muhammad auf fünf fest. Man erzählt sich dazu die
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