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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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seinen Körper liebkost. Er hätte lieber, dass Maroushka ihn liebkost, aber das ist im Moment keine Option.
    Maroushka quietscht entzückt auf, als vor ihnen am dämmernden Himmel die märchenhaft angestrahlten Türme von Canary Wharf auftauchen, als sähe sie sie zum ersten Mal. Chicken rezitiert die Namen der Gebäude wie ein Vater, der einem aufgeregten Kind die Sternbilder am Himmel zeigt.
    »HSBC. Citigroup. Barclays. Clifford Chance. Credit Suisse. Bank of America. Merrill Lynch.«
    Sie reckt den Hals und dreht sich auf ihrem Sitz, so dass ihr Schenkel den von Chicken berührt. Serge ärgert sich, nicht nur, weil er mit dem Rücken zur Aussicht sitzt, sondern auch, weil er lieber mit der Docklands Light Railway gefahren wäre, was sehr viel schneller und bequemer gewesen wäre, aber Maroushka hat sich strikt geweigert mit der Begründung, Züge seien zu volkstümlich und sie reise nur mit dem Taxi. Und weil sich seit dem Kuss letzte Woche nichts mehr zwischen ihnen getan hat. Und außerdem, weil sie, wenn er sich nicht bei Chicken für sie eingesetzt hätte, jetzt gar nicht hier sitzen würde.
    Das Taxi setzt sie am Fuß eines Turms aus Glas und Stahl ab, wo die Rating-Agentur ihren Sitz hat. Sie nehmen den Fahrstuhl in die oberste Etage und werden in einen anonymen Konferenzsaal geführt.
    Chicken stellt sie vor. »Das ist Serge Free. Ich habe euch am Telefon von ihm erzählt. Und das ist Mary Malko, eine unserer hellsten Quants.«
    »Guten Tag.«
    Die zwei Typen von der Rating-Agentur schütteln ihm kurz die Hand, bei Maroushka ist der Händedruck ausgedehnter. Es wird schnell klar, dass der kleinere Ältere der Untergebene ist. Der junge Große mit der stumpfen Nase und den großen Ohren kommt Serge vage bekannt vor, aber er kann ihn nicht einordnen. Sie setzen sich, Kaffee wird gebracht.
    »Leg los, Serge«, sagt Chicken.
    Serge öffnet den Aktenkoffer und räuspert sich.
    »Dieses Investment repräsentiert ein neues Portfolio-Modell, zugeschnitten auf die Handelsbedingungen nach 2007, das das Gauß-Copula-Modell für Ausfallrisiken bedeutend erweitert. Wir haben die Erlösquoten randomisiert, indem wir die inzwischen bekannte Wirkung der umgekehrten Beziehung zwischenErlösquote und Ausfallhäufigkeit zugrunde gelegt haben.«
    Der ältere, kleinere Mann macht sich Notizen und sieht Serge an, der Chicken im Auge behält, der den großen stumpfnasigen Mann beobachtet, der Maroushka anstarrt. Maroushka sieht aus dem Fenster.
    Wie hält sie es aus, ihn ihre Worte sagen zu lassen, ohne dass sie unterbrechen oder erklären will? Er an ihrer Stelle wäre stinksauer, dass Chicken ihre Arbeit an sich gerissen und Serge mit der Präsentation betraut hat. Ursprünglich wollte Chicken Maroushka sogar überhaupt nicht dabeihaben, aber Serge hat sich quergestellt und darauf bestanden, dass sie wenigstens dazu eingeladen werden sollte. Das Komische ist, es scheint ihr nichts auszumachen. Vielleicht, weil sie eine Frau ist.
    Von hier oben haben sie eine beeindruckende Aussicht auf Wolkenkratzer, Shopping-Plazas und Verbindungsstege, die alle nagelneu wirken, eingegrenzt von der Schleife des Flusses, der an den meisten Stellen in London schmutzig braun ist, aber hier sieht er alt und ehrwürdig aus wie in dem Lied ›Old Father Thames‹. Ebenerdig hat das Gebäude einen echten Pier, an dem echte Boote liegen und lebendige Möwen herumkreischen. Als die Dämmerung hereinbricht, blinken die Lichter der Nachbartürme und Straßen und Kais unter ihnen auf, und alles sieht ein bisschen aus wie eine Szene in einem Computerspiel – perfekt designt, aber unwirklich, alles auf unbegrenzten Gewinn angelegt. Die Menschen beginnen aus den Büros in die Geschäfte und Bars der Plazas zu strömen, als er zum Ende der Präsentation kommt und sie eine Kaffeepause machen.
    »Alles in Ordnung, Maroushka?«, flüstert er. »Was denkst du?«
    »Wir zahlen gute Gebühr, sie machen gute Rating«, sagt sie, ohne ihn anzusehen.
    Links neben sich hört er Chicken mit dem stumpfnasigen Mann reden. »Ich habe mein Handicap auf elf gesenkt.«
    Der Mann – er heißt Smythe – legt Chicken die Hand auf die Schulter. »Wir müssen unbedingt vor Weihnachten noch mal eine Runde hinkriegen, Ken.«
    Das ist es – die Golf-Fotos. Smythe ist der golfspielende Apoll mit den Goldlocken, nur dass er inzwischen einen anonymen Banker-Haarschnitt trägt, wodurch Nase und Ohren größer wirken. Auf den Fotos hatte er ein Polohemd an, aber der Anzug, den er

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