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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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jemandem auf den Fuß tritt, der sich hinter ihr die Stufen hinaufschiebt. Sie dreht sich um – es ist Stadtrat Malcolm Loxley. Ihre Blicke treffen sich.
    »Ich bringe euch Grüße von der Radiogalaxie Cygnus!«, bellt Chris in sein Megafon.
    Der Stadtrat wirft einen Blick auf ihr Plakat. Seine Mundwinkel kräuseln sich kaum merklich. Dann sieht er einfach über sie hinweg und drängt sich an ihr vorbei in das Gebäude.
    Rot vor Wut versucht sie ihm zu folgen, aber ein Ordner verstellt ihr den Weg.
    Trotz des Vortrags von Reggie Hicks, trotz der zweihundert Unterschriften auf der Petition, trotz der Kapelle und den Parolen, trotz der Schlägerei, die zwischen den Anarchisten und den Befreiern ausbrach, und dem Diebstahl des posadistischenMegafons durch Extremisten von der Barnsley-Anarchisten-Allianz, die sie mit »BAA! BAA!«-Geschrei verhöhnen, wird der Antrag, das Grundstück der Kleingartensiedlung an einen Bauträger zu verkaufen, mit vierundvierzig Stimmen gegen acht, bei fünf Enthaltungen, angenommen, mit der Auflage, unter anderem eine betreute Wohnanlage für »Lernbehinderte« darauf entstehen zu lassen.
    Es ist nach eins, als Marcus und Doro nach Hause kommen, müde und ein bisschen heiser. Doro legt sich aufs Sofa und wünschte, sie hätte bequemere Schuhe angezogen.
    »Was gibt’s zum Mittagessen?«, fragt Marcus.
    »Wir haben Käse und Salat. Und auch eine halbe Flasche Wein im Kühlschrank.«
    »Soll ich Sandwiches machen?«, fragt er mit dem zögernden Ton, der impliziert, dass er gar nicht in der Lage ist, eine so anspruchsvolle Aufgabe zu erledigen.
    »Versuch’s einfach«, sagt sie.
    Sie essen die Sandwiches auf dem Sofa und sehen sich die Nachrichten im Fernsehen an. Obamas Wahlsieg beherrscht immer noch die Schlagzeilen. In Afghanistan sind siebenunddreißig Menschen ums Leben gekommen, weitere fünfundzwanzig im Irak. Miriam Makeba ist gestorben.
    Es kommt nichts über ihre Demo, nicht mal in den Lokalnachrichten.
    »Schade. Dabei waren so viele da«, sagt Doro und seufzt wohlig, als Nahrung und Wein ihre Wirkung entfalten.
    »Ich bin richtig nostalgisch geworden«, erklärt Marcus. »Es ist Jahre her, dass ich so schön skandiert habe! Ich bin froh, dass du mich überredet hast.«
    »Ich wünschte nur, es wären nicht so viele Irre dagewesen – das hat den falschen Eindruck gemacht.«
    »Wir waren auch mal Irre.«
    »Aber nie so irre wie die«, sagt sie.
    »Irre haben eine wichtige Aufgabe in unserer Gesellschaft. Sie stellen die Gemeinplätze der Zeit in Frage.«
    »Ach ja?«
    »Überleg doch mal. Ohne Irre gäbe es immer noch Sklavenhaltung und Kinderschornsteinfeger.«
    Sie schenkt sich den letzten Tropfen Wein ein und legt die Arme um ihn.
    »Ich liebe dich, du Irrer«, flüstert sie und wuschelt ihm durchs Haar, das immer noch feucht vom Regen ist.
    »Ich liebe dich, Gaga«, flüstert er zurück. »Kampfgefährtin. Lebensgenossin.«
    Er zieht sie auf dem Sofa an sich, die Hände warm und vertraut, und bedeckt ihr Gesicht mit Küssen. Sie lehnt sich an ihn, schiebt die Finger unter sein Hemd und tastet nach der weicheren, privaten Haut mit dem feinen Flaum grauer Locken. Er knöpft ihre Bluse auf und legt die Hände um ihre in schwarzen Satin verpackten Brüste.
    »Weißt du, dass du eine sehr attraktive Frau bist ...«
    Sie schließt die Augen und denkt – bitte, bitte, bitte, sag nicht »für dein Alter«.
    Und er sagt es nicht.

TEIL VIER
    Märchenland

Serge
    AAA
    Es ist Dienstag, der 11. November, gegen vier Uhr nachmittags. Serge, Maroushka und Chicken sitzen in einem Taxi, das durch den Limehouse-Link-Tunnel in Richtung Canary Wharf kriecht. Chicken und Maroushka sitzen unnötig dicht nebeneinander auf der Bank mit Blick nach vorn. Serge sitzt mit dem Rücken zum Fahrer auf einem der Klappsitze, einen Aktenkoffer auf den Knien, mit denen er beinahe die von Maroushka berührt – er möchte sie gern berühren, aber er muss sich zurückhalten, wegen Chicken. Maroushka trägt einen schwarzen Kaschmirmantel, lässig aufgeknöpft, über dem tiefrosenroten Kleid und dünnen schwarzen Strümpfen, die die Rundung ihrer Knie betonen. Ihr Lippenstift passt zum Rot des Kleides, sinnlich und doch reserviert. Chicken trägt auch einen schwarzen Kaschmirmantel über einem maßgeschneiderten schwarzen Anzug mit einem cremeweißen Brioni-Hemd. Serge trägt immer noch den ermäßigten Ermenegildo-Zegna-Anzug, doch er hat sich ein neues Brioni-Hemd geleistet, das mit jeder Bewegung des Taxis

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