Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Idee nicht zu erschüttern. Sie freut sich sogar viel mehr darauf, Brautjungfer zu sein, als auf die Adoption, für die sie kein besonderes Kleid bekommt, und weder Marcus noch Doro ist sonst irgendein Vorteil eingefallen, den sie hätten herausstreichen können. Sobald sie ein Datum festgelegt haben, muss Doro mit den Vorbereitungen beginnen, die zweifellos allein an ihr hängenbleiben werden.
Im Arbeitszimmer, Serges früherem Kinderzimmer, stößt sie mit dem Staubsauger gegen einen alten Karton mit Papieren,der mit Paketband zugeklebt ist und den sie seit dem Umzug 1995 von Solidarity Hall hierher nicht mehr geöffnet hat. Vielleicht ist es an der Zeit, ein wenig Ballast abzuwerfen? Als sie den Karton öffnet, flattert ihr ein Zettel entgegen.
Liebe Freunde,
wenn ihr dies lest bin ich weit weg.
Ich habe die Chance aufs Glück, und ich musste sie nehmen.
Kümmert euch um die kleine Julie-Anna.
Sie hat immer mehr zu euch gehört als zu mir,
und jetzt gehört sie euch ganz.
Wenn wir uns je widersehen, hoffe ich, ihr werdet mich verstehen.
Mit freundlichen Grüßen
eure Megan Cromer
Die Schrift ist klein und rund wie die eines Kindes, mit Kringeln statt I-Punkten und dem Rechtschreibfehler im letzten Satz. Sie liest den Brief zweimal und ist so übermannt von einer plötzlichen Gefühlsaufwallung, dass sie ihn schnell wieder in den Karton legt. Doch die Fragen bleiben, als sie mit dem Staubsauger weiter durchs Haus zieht.
Wo ist »weit weg«?
Welche »Chance aufs Glück«?
Vor zwanzig Jahren hat sie den Brief zum ersten Mal gelesen und keinen weiteren Gedanken darauf verschwendet. Heute wirkt er so melodramatisch und lächerlich. »Wenn wir uns je widersehen, hoffe ich, ihr werdet mich verstehen.« Wie aus einem Kitschroman. Plötzlich wird sie wütend auf Megan, was ihr damals die politische Korrektheit nicht erlaubt hat. Als ginge es um ihr Glück. Was war mit Oolies Glück?
Selbst die Namen werfen Fragen auf.
Warum Megan Cromer? Was hatte sie zu verbergen? Oder hatte sie von Anfang an geplant, eines Tages wegzulaufen?
Warum Julie-Anna? War es ein simpler Schreibfehler oder die Weigerung, den Namen zu akzeptieren, den die Kommune ihr gegeben hatte?
Doro erinnert sich an die Szene im Wohnzimmer von Solidarity Hall, als Chris Watt versuchte, Megan zum Stillen zu überreden, Megans finstere Erschöpfung, und wie Chris Howe und Fred hereinplatzten, so stolz auf den Namen, den sie gefunden hatten. Megan nickte ausdruckslos und starrte das quengelige, unempfängliche Baby an. Doros Gewissen regt sich. »Sie hat immer mehr zu euch gehört als zu mir.« Vielleicht war da etwas dran. Die Kommune konnte Oolie viel mehr geben, als ihr Megan allein hätte geben können – warum sollte sie ein schlechtes Gewissen haben? »Jetzt gehört sie euch ganz«, hatte Megan geschrieben, und von diesem Moment an hatte Doros Leben einen anderen Kurs eingeschlagen, wie ein Planet, der seine Bahn ändert.
Auch die älteren Kinder passten sich Oolies Ankunft in der Familie ein. Clara übernahm mehr Verantwortung. Serge und Otto zogen sich in ihre eigene versponnene Welt zurück. Es wäre schön, wenn sie mit ihnen über damals reden könnte, ihnen erklären könnte, was passiert war. Aber warum sie mit den alten vergessenen Geschichten belasten? Clara setzt sich großartig für diese schwierigen Kinder ein, denkt nicht nur an sich wie so viele andere junge Leute heutzutage. Und Serge ist auch nicht den Weg des leichten Geldes gegangen, den er hätte einschlagen können mit seiner Intelligenz, sondern er kämpft dafür, das menschliche Wissen voranzubringen. Und die kleine Oolie ist so ein fröhlicher Mensch, trotz all der Rückschläge, die ihr widerfahren. Ihre Kinder machen sie sehr stolz.
Sie schaltet den Staubsauger aus und stellt den Karton raus auf den Treppenabsatz – morgen wird sie Marcus überreden, mit ihr zum Recyclinghof zu fahren. Und auf dem Rückwegwird sie bei Oxfam vorbeischauen und sich als freiwillige Helferin melden.
»Soll ich uns was zum Abendessen kochen?«, ruft er aus der Küche herauf.
Ja, es geht wirklich ein frischer Wind durch ihr Leben.
Serge
Böser Junge, du
Morgen. Mx
Mit anderen Worten: heute. Es ist 07:45 h, 14. November 2008, laut Bloomberg-TV auf dem Bildschirm unter der hohen Decke des Handelsraums.
Sie ist noch nicht da. Serge hängt seine Jacke über die Stuhllehne und stellt den Monitor an. Er hat letzte Nacht kaum geschlafen. Ein Erschöpfungs-Tic lässt das Lid seines
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